Lange war der Zürcherin gar nicht bewusst, dass sie Tochter eines Holocaust-Überlebenden ist: «Als Kind sah ich ständig Skelette», erzählt Olonetzky, «ein Bild für das Gefühl, dass über etwas Grosses nicht gesprochen wird.»
Kam es in die Nähe des Themas, sagte ihr Vater stets: «Wenn du alt genug bist, erzähle ich dir davon.» Ein Satz, der Nadine Olonetzky den Mund verschloss.
Diese Geschichte macht sprachlos
Als sie 15 war, bestellte der Vater sie in den Botanischen Garten in Zürich. «Auf einer Parkbank erzählte er mir, was passiert war.» Nadine Olonetzkys Grossvater und ihre Tante wurden im KZ ermordet. Ihr Vater wurde in ein Arbeitslager gesteckt. 1943 gelang ihm auf abenteuerliche Weise die Flucht in die Schweiz.
«Mein Vater erzählte aber nur einen kleinen Teil seiner Geschichte. Viele Fragen konnte ich ihm bis zu seinem Tod nie stellen.» Die Familiengeschichte machte auch Nadine Olonetzky jahrelang sprachlos.
Beschämende «Wiedergutmachung»
2019 wollte Nadine Olonetzky zum Andenken ihrer Verwandten einen Stolperstein in Stuttgart setzen lassen. Die notwendigen Archivrecherchen brachten Unerwartetes zutage: «Ich dachte, ich würde etwas finden über meinen Grossvater und meine Tante, die ermordet wurden. Das meiste war aber über meinen Vater.»
Nadine Olonetzky stiess auf 2500 Seiten Dokumente. Die allermeisten vom «Landesamt für Wiedergutmachung». So fand Olonetzky heraus, dass ihr Vater nach dem Krieg 24 Jahre lang um Entschädigung kämpfte.
Auf die Torturen in der NS-Zeit folgte für ihn ein schikanöser Spiessrutenlauf bei den deutschen Behörden. «Eine Kaskade des Misstrauens und der Demütigung» nennt Olonetzky diesen juristischen Kampf. Immer aufs Neue musste ihr Vater beweisen, was ihm und seiner Familie angetan wurde. Alles wurde von den Behörden angezweifelt. Die finanzielle Entschädigung, die er schlussendlich bekam, war mickrig.
«Davon muss ich unbedingt erzählen»
Die Dokumente waren für Nadine Olonetzky ein Schock: «Ich träumte von dem, was ich gelesen hatte. Ich bekam Magenschmerzen. Es tat weh.» Aber in ihr wuchs auch ein starker Impuls: «Davon muss ich unbedingt erzählen».
Das tut Olonetzky im Buch «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist». Darin mit eingeflossen sind Auszüge aus den behördlichen Schreiben im Beamtendeutsch. Olonetzky stellt nicht nur das Vorgehen, sondern auch die Sprache der Wiedergutmachungsämter bloss.
Das Buch ist eine Collage: Die Beamtensprache kontrastiert die Autorin mit den schlichten und umso eindringlicheren Erzählungen ihres Vaters, mit eigenen Recherchen und mit Kindheitserinnerungen.
Ein Buch für die Zukunft
Nadine Olonetzky erzählt die Geschichte ihrer Familie auf sehr persönliche, gar intime Weise. Zugleich beleuchtet ihr Buch ein weniger bekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte.
Damit macht Nadine Olonetzky deutlich, was auch zukünftig von Bedeutung sein wird: «Mit einem Friedensbeschluss ist nicht plötzlich alles wieder gut. Und auch nicht mit der politischen Wiedergutmachung.»