Das Wettlesen begann am Morgen mit einem Text, der vermutlich alle Anwesenden auf einen Schlag wach werden liess: Die in Zürich lebende Autorin Corinna T. Sievers erzählt von einer Zahnärztin, die einen um sehr viele Jahre jüngeren Mann auf ihrem Zahnarztstuhl verführt.
Umkehrung einer Männerfantasie
Das heisst, «verführt» ist eigentlich das falsche Wort: In technisch-kalter Sprache – und äusserst explizit – erzählt die Erotomanin über ihre besondere Art von Liebe. Dass die Mehrheit der Jury dieser Umkehrung einer Männerfantasie anschliessend mangelnde Radikalität vorwarf, entbehrt bei diesem mutigen Text nicht einer gewissen Komik.
Ally Klein war im Anschluss das komplette Gegenteil von Sievers: Während der erste Text des Tages eindeutig zu den «plotgetriebenen Texten» des Wettbewerbs zählte, war «Carter» ein Sprachexperiment, bei dem niemand so recht sagen konnte, was eigentlich verhandelt wird. Trotzdem kam der Text mit seiner Sinnlichkeit und Atmosphäre gut an.
Einzig die Überlegung, dass Ally Klein hier eine Panikattacke abbilden könnte, kam der Jury offenbar nicht in den Sinn.
Drei Favoriten für den Bachmann-Preis
Die letzten drei Texte des Tages haben sich alle drei als eindeutige Favoriten des Wettbewerbs erwiesen.
Mein persönlicher Favorit bisher: Tanja Maljartschuk und ihr Text «Frösche im Meer». Darin erzählt die in der Ukraine geborene und in Wien lebende Autorin von einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem eingewanderten Hilfsarbeiter und einer alten dementen Frau; zwei Randständige unserer Gesellschaft, die das Gefühl der Einsamkeit miteinander verbindet.
Eine «ganz einfache Geschichte ohne Gefühlsduselei, die aber kompliziert ist», urteilte Jurorin Insa Wilke. Endlich eine richtige Geschichte! Das konstatierte nicht nur die Jury, das dachte sich offenbar auch das Publikum, als es im Anschluss an die Lesung frenetisch applaudierte.
Starker Tag mit viel Diskussion
Noch mehr Lob von der Jury erhielt Bov Bjerg für seinen Text «Serpentinen»: eine motivisch dicht verwobene Vater-Sohn-Geschichte mit gelungenen Dialogen.
Auch Anselm Neft überzeugte die Jury mit seinem Text «Mach’s wie Miltos!» über einen Obdachlosen mit Hund, der seine Familie verloren hat.
Alles in allem also ein starker Tag mit mindestens drei Favoriten am Start für den Ingeborg Bachmann-Preis 2018 und mehreren Texten, die ordentlich für Diskussion sorgten.