«Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde» – so lautet der Titel des Siegertexts beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Geschrieben hat ihn: Tijan Sila. Schon unmittelbar nach seiner Lesung am Donnerstag galt Sila als einer der Favoriten. Das Publikum im Studio schenkte ihm einen auffällig langen Applaus. Und die Jury zeigte sich einhellig beeindruckt von Silas «tragikomischer Sprache», mit der er über die Auswirkungen des Jugoslawienkriegs schreibt.
Die Krönung seines bisherigen Schaffens
Tijan Sila wurde 1981 in Sarajevo geboren und kam mit 13 Jahren als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Später studierte er Germanistik und Anglistik in Heidelberg. Neben seiner Tätigkeit als Autor arbeitet Sila heute als Deutschlehrer. Der Nachname «Sila» ist übrigens ein Künstlername. Er bedeutet auf Bosnisch so viel wie «Kraft» oder «Macht».
Mit seinen vier Romanen, darunter dem 2023 erschienenem «Radio Sarajevo», konnte Sila bereits grössere literarische Erfolge feiern. Der nun an ihn vergebene Ingeborg-Bachmann-Preis dürfte die Krönung seines bisherigen Schaffens sein. Während der Verleihung sagte Sila überwältigt: «Euphorie und Unglaube stehen sich gerade noch gegenüber.»
Kriege, Krisen und Traumata
Mit der Preisverleihung ging die 48. Ausgabe des dreitägigen Wettlesens um den Ingeborg-Bachmann-Preis am Sonntag zu Ende. Acht Autorinnen, fünf Autoren und eine nicht-binäre Person traten im österreichischen Klagenfurt gegeneinander an. Mit einem bislang unveröffentlichten Text galt es, die siebenköpfige Jury zu überzeugen. Was Tijan Sila also am Ende gelang.
Tijan Sila beschreibt eindringlich, wie Kriege, Krisen und Traumata über Generationen hinweg nachwirken und weiter wüten. Diese Themen kamen auch in anderen Texten vor: Sie zogen sich wie ein roter Faden durch die diesjährige Veranstaltung. Es war ein starker Jahrgang mit mehreren preiswürdigen Texten.
Lustiger Text über eine Gewürzgurke
Der Wettbewerb enthielt aber nicht nur schwere, düstere Beiträge. Sondern auch einen ausgesprochen lustigen: Die österreichisch-deutsche Autorin Johanna Sebauer zeigte nämlich, wie stark eine Gewürzgurke polarisieren kann. Ihre Kurzgeschichte «Das Gurkerl» ist eine Satire auf unsere Empörungsgesellschaft und die Eskalationsmechanismen in den Medien.
Neben dem Ingeborg-Bachmann-Preis wurden einige weitere Auszeichnungen verlieren. Johanna Sebauer konnte sich mit ihrem «Gurkerl» den mit 7.500 Euro dotierten 3sat-Preis sichern. Auch der Publikumspreis, über den die Zuschauerinnen und Zuschauer online abstimmen durften, ging – wenig überraschend – an Sebauer.
Keine Preise für die Schweiz
Keine Preise gab es für die drei Schweizer Teilnehmenden. Von ihnen erntete vor allem die Bernerin Sarah Elena Müller Lob seitens der Jury. In Müllers surrealistisch angehauchtem Text «Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette» hadert die Ich-Erzählerin mit der Suchterkrankung ihres Mitbewohners. Weniger Jury-Zuspruch erhielten der Zürcher Spoken-Word-Künstler Roland Jurczok und der aus Thalwil stammende Semi Eschmamp.