Wenn Taio ein Bilderbuch anschauen will, hat er die Qual der Wahl. In seinem Zimmer befinden sich gleich mehrere Dutzend Exemplare.
Der Zweijährige entscheidet sich für ein Wimmelbuch. Als er es aufschlägt, betritt er einen «gemeinsamen Erfahrungsraum» mit seiner Mutter, wie es diese ausdrückt.
Taios Mutter ist die Schweizer Illustratorin Evelyne Laube («Marta & ich»). Täglich taucht sie mit ihrem Sohn in die Welt der Bilderbücher ein. Wovon beide profitieren.
Begegnung auf Augenhöhe
«Wimmelbücher eignen sich zum Beispiel hervorragend, um miteinander Sachen zu entdecken», sagt Laube. «Taio sieht manchmal viel mehr als ich. Das zwingt mich, selbst genau hinzuschauen. So begegnen wir uns auf Augenhöhe.»
Die Sprösslinge als ebenbürtiges Gegenüber zu erachten, ist zentral für deren Entwicklung. Es kommt voll zum Tragen, wenn sich die Bezugsperson auf das Kind einlässt – etwa beim Anschauen von Bilderbüchern.
Dadurch entsteht eine Interaktion, die dem Kind später helfen wird, «schneller in den schulischen Alltag zu wachsen», sagt Christine Tresch vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM).
Aufmerksam und empathisch
Der Umgang mit Büchern kann Kindern einen Bildungsvorsprung verschaffen. «Durch das Hören von Geschichten bekommen sie viele Muster schriftlicher Sprache mit», erklärt Kinderliteraturexpertin Tresch. An diesen Mustern können sie sich später orientieren, wenn sie Lesen und Schreiben lernen.
Die Forschung hält auch fest: Kinder, denen viel vorgelesen wird, haben einen grösseren Wortschatz. Sie verstehen Sprache besser. Und zeigen sich oft aufmerksamer in der Schule. Zudem können Erlebnisse im Bilderbuch die Empathie erhöhen.
Das innere Kind
Damit diese positiven Effekte eintreten, muss zuerst eine grosse Hürde überwunden werden: Beim Kleinkind muss das Interesse für Bücher geweckt werden.
Evelyne Laube weiss, wie schwierig das sein kann. Als Mutter und Illustratorin stehe sie jeweils vor der Herausforderung, mit ihren Geschichten einen Bezug zum Kind herstellen zu können.
Für sie als Zeichnerin sind deshalb Identifikationsfiguren wichtig – und die Bereitschaft, «das eigene, innere Kind» nicht zu vergessen. Wenn die 36-Jährige zeichnet, dann auch immer mit sich selbst im Blick.
Dabei lasse sie sich nicht zu stark vom Gefühl einschränken, die Geschichte müsse vor allem «pädagogisch korrekt sein». Sonst werde das Buch zu steif und erreiche das Kind erst recht nicht.
Förderprojekt für den Nachwuchs
Diese Überzeugung gibt Evelyne Laube der jüngsten Generation der hiesigen Illustrierenden weiter. Sie lehrt als Dozentin an der Hochschule Luzern, wo sie im Bereich «Design & Kunst» Illustration lehrt. Zudem hat sie zusammen mit der Hochschule das Nachwuchs-Förderprojekt «BoloKlub» mitbegründet.
Die Nachwuchsförderung sei enorm wichtig, denn das Métier der Illustration falle häufig zwischen den Sparten durch, da es weder zur bildenden Kunst zähle noch zur Literatur. Die vorhandenen Mittel seien entsprechend spärlich, «spezifisch fürs Bilderbuch», sagt Laube.
Aus diesem Bedürfnis hatte sie die Idee des «BoloKlub» mitentwickelt. Der Name nimmt Bezug auf den Austragungsort der weltweit grössten alljährlichen Kinderbuchmesse: Bologna.
Messe mit Gastland Schweiz
Dieses Jahr stellt die Eidgenossenschaft bei der Kinderbuchmesse in Bologna, die am 1. April beginnt, das Gastland. Junge Illustrierende aus allen vier Schweizer Sprachregionen konnten sich bewerben, um auf der Messe auszustellen. Die 28 Besten haben sich dafür qualifiziert. Damit sind sie zentraler Pfeiler eines grossen Schweizer Auftritts.
Die Messe richtet sich nicht an ein breites Publikum, sondern an Branchen-Vertreter: Illustratoren, Autorinnen und Verlage. Es geht um den Verkauf bzw. Erwerb von Lizenzen der präsentierten Arbeiten.
Bewährungsprobe steht an
Evelyne Laube kennt diese Verhandlungssituation bestens. «Als Illustrator muss man herausfinden, welcher Verlag zu einem passt – in Bezug auf Inhalt, Sprache, aber auch den Humor.»
Das ist kein einfacher Prozess. Die Unerfahrenheit der jungen Kräfte bringe eine gewisse «Unsicherheit» mit sich. Sie müssen zuerst herausfinden, ob der Markt ihre Exponate nachfragt. Für sie wird die Fachmesse zur Bewährungsprobe.
Regnende Elefanten
Dem «BoloKlub» steht Evelyne Laube nicht allein vor. Sie tut dies zusammen mit Nina Wehrle, die ebenfalls an der Hochschule in Luzern einen Lehrauftrag für Illustration innehat.
Die beiden Frauen haben sich während ihrer Ausbildung kennen und schätzen gelernt. Seit nunmehr elf Jahren agieren sie beruflich als das Duo «It’s Raining Elephants». Ein Name, der aufhorchen lässt.
Evelyne Laube erinnert sich gut an den Moment, als er entstand: «Nina und ich sassen im Dachstock der Schule, wo wir uns nach Abschluss des Studiums versteckt hielten, weil wir kein eigenes Atelier hatten. Wir wollten uns selbstständig machen, und da passierte es: Zuerst bildeten sich Elefantenwolken, dann stürmte es los. Wir hatten unseren Namen gefunden.»
«It’s Raining Elephants» passt zu ihrer Tätigkeit: Er löst Bilder im Kopf aus – und ist in Englisch gehalten, weil für das Doppel nach dem Studium dasselbe galt wie heute für die Mitglieder des «BoloKlub»: «Raus aus dem kleinen Biotop und ab in die grosse weite Welt», so Evelyne Laube lachend.
Ein Duo als Ausnahme
Dass Illustrierende zusammenspannen, kommt selten vor. Die Branche besteht vornehmlich aus Einzelkämpfern, was Nina Wehrle nachvollziehen kann. «Zeichnen ist etwas sehr Intuitives und Persönliches. Daher haben wohl viele das Gefühl, eine Zusammenarbeit gehe nicht, zumal jede Handschrift an eine Person gebunden ist.»
Die beiden Freudinnen dagegen haben ihre Handschrift gemeinsam entwickelt. Das bedeute aber nicht, kein eigenes Zeichnen zu kultivieren, sagt Evelyne Laube. Das brauche es genauso wie eigenständiges Denken.
Die Kooperation der beiden Künstlerinnen führt zu einem «Resonanzraum», den sie teilen können. Ideen und Entwürfe lassen sich sofort ausprobieren, diskutieren und überprüfen. Das beschleunige ihren Kreativprozess, betonen sie unisono.
Idylle nach dem Schrecken
Mit ihren international preisgekrönten Werken reihen sich Laube/Wehrle in eine reichhaltige Tradition ein: Das Schweizer Illustrationswesen wird weitherum geschätzt. Und das schon seit Jahrzehnten, wie Kinderbuch-Klassiker «Schellen-Ursli» beweist.
Der im Oktober 1945 veröffentlichte Band war ein Kind seiner Zeit. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs erweckte er mit der präsentierten Bergidylle einen bitternötigen «Sehnsuchtsort» zu neuem Leben, erklärt Kinderbuchexpertin Christine Tresch.
So habe das Buch das Bedürfnis nach Stabilität in einem verunsicherten Europa bedient. Es bot Orientierung in einer Epoche, die von geistiger Landesverteidigung und der Frage geprägt war, wie es mit einer Welt, die aus zerstrittenen Kriegsparteien bestand, weitergehen soll.
Verkaufsklassiker bis heute
Bis heute beliebt ist ein weiteres Werk, das damals veröffentlicht wurde: Hans Fischers «Pitschi» aus dem Jahr 1947. Hier zeigt sich exemplarisch, was ein Bilderbuch zu leisten hat, um erfolgreich zu sein: Es muss nicht nur Kinder ansprechen, sondern auch Erwachsene – die Klientel.
Dies ist bei «Pitschi» der Fall. Das titelgebende Kätzchen wäre lieber ein anderes Tier. Bis es merkt, wie schön das Leben als Kätzchen ist. Zu seinem eigenen Wesen zu stehen – diese einfache Moral hat über die Jahrzehnte nichts von ihrer Gültigkeit eingebüsst und spricht noch heute das Publikum an.
Wirklichkeit durchbricht Idylle
Im Zuge der sozialen Unruhen 1968, die mit ihrem zeitkritischen Impetus einen gesellschaftlichen Wandel forderten, veränderte sich auch das Schweizer Bilderbuch. Bis anhin hatte Idylle vorgeherrscht. Nun bricht die reale in die heile Welt ein – mit all ihren Herausforderungen.
So hinterfragt zum Beispiel «Reise nach Tripiti» die Konsumgesellschaft. Darin beleuchtet H.U. Steger bereits 1967 eine Wegwerf-Mentalität, durch die «Kinder so viele Spielwaren haben, dass sie das, was nicht funktioniert, einfach wegschmeissen», wie Christine Tresch festhält.
Probleme werden zum Thema
Eine weitere Geschichte, die für diesen Wandel hin zum modernen, ungefilterten Leben steht, ist Jörg Müllers «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder». Das 1973 erschienene Buch beleuchtet den Bauboom – und dies in einer Zeit, «in der Umweltprobleme im allgemeinen Bewusstsein präsent» werden, so Autor Müller.
1995 verhandelt der gleiche Autor in «Die Kanincheninsel» Massentierhaltung und Fleischkonsum. Für Christine Tresch ist dies nur richtig. Kinder könne man den Alltag «zumuten». Beschönigen müsse man ihn nicht – solange er altersgerecht dargestellt werde.
Deshalb greifen Illustrierende gerne zu Tier-Sujets für ihre Figuren. Sie sind genderneutral, nicht an eine Hautfarbe gebunden und dürfen auch einmal dick sein. Das erlaubt es, Kinder auf adäquate Weise mit komplexen Themen zu konfrontieren.
Ein Fisch als Verkaufsschlager
Um Egozentrismus und Altruismus zu thematisieren, kommt etwa ein Regenbogenfisch zum Einsatz – im gleichnamigen Werk Marcus Pfisters. Es ist das weltweit erfolgreichste Schweizer Bilderbuch. Seit seiner Publikation 1992 sind über 30 Millionen Exemplare verkauft worden.
All diesen Titeln gemein ist, dass sie – in den Worten Franz Hohlers – «einen Gang in die zweite Welt» ermöglichen. Diese zweite Welt bildet diejenige ab, die «um uns herum» ist. Dadurch helfen Geschichten, «unsere Welt zu begreifen», so der bekannte Schweizer Autor.
Apps als Weiterentwicklung
Zukünftig wird dies wohl nicht mehr nur analog geschehen. Das Bilderbuch erhält nämlich eine neue Spielform: sogenannte Story-Apps. Als treibende Kräfte der Illustrierenden-Szene haben Evelyne Laube und Nina Wehrle begonnen, Geschichten auch ins Digitale zu tragen.
Scrollen statt Umblättern: Das bietet «multioptionales» Erzählen mit Bild- und Ton-Effekten. Diese sollen allerdings nicht ablenken, sondern die Dramaturgie unterstützen.
Bilderbücher für unterwegs
In den Apps sieht Evelyne Laube keine Konkurrenz für das traditionelle Bilderbuch, sondern eine Ergänzung: eine «Bibliothek für unterwegs». Zumindest ist dies ihr Wunsch.
Ein Wunsch, dem sich Sohn Taio anschliessen dürfte. Dank der technischen Weiterentwicklung wird er seine Wimmelbücher wohl bald auch ausser Haus anschauen können, ohne dass seine Eltern sie mitschleppen müssen.