Wer Annie Ernaux zum Vergnügen liest, der hat nicht viel von dieser Lektüre. Wer aber ihre Entwicklung im Schreiben nachvollziehen möchte, der ist mit ihrem 1974 erschienenen Debüt «Die leeren Schränke» gut beraten.
Ernaux' Debüt ist autobiografisch geprägt, wie ihre nachfolgenden Texte. Doch es liest sich ganz anders als ihre Bücher «La Place» oder «Passion simple», die sie in den frühen 1980er- und 90er-Jahren geschrieben hat. Erst ab diesem Zeitpunkt weist ihr Schreiben jene Eigenschaften auf, für die die Schriftstellerin den Literatur-Nobelpreis 2022 erhalten hat.
Um den Unterschied festzumachen: Annie Ernaux' Sprache ist heute nüchtern, präzise. Sie geht immer von einer Szene aus und entwickelt aus dieser heraus ihre Geschichte. Ernaux reiht ein Schlaglicht, eine Erinnerung an die andere. Sie beschreibt Stimmungen, Gefühle und Emotionen glasklar, ohne eine Wertung zu vollziehen. Man kann sich in ihnen wiedererkennen. Das ist das Universelle.
Ein ungefiltertes Debüt
Am Anfang ihres Schreibens ist dies noch nicht der Fall. In «Die Leeren Schränke» («Les Armoires vides») gibt es keine Distanz zwischen der Autorin und ihrer Romanfigur, keine Selbstreflexion, keine Tendenz zum Allgemeingültigen hin. Ernaux entlädt ihren Zorn über ihre Herkunft, über ihr Elternhaus ungefiltert aufs Papier:
«Ich bin ja nicht mit dieser Wut zur Welt gekommen, ich habe sie nicht immer gehasst, meine Eltern, die Kundschaft, den Laden. Die anderen, die Kultivierten, die Professoren, die ehrbaren Leute hasse ich mittlerweile auch. Ich habe den Bauch voll von ihnen. Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles, was ich gelernt habe.»
Abrechnung mit ihrer Vergangenheit
Ernaux ist in einem kleinen Ort in der Normandie aufgewachsen. Ihr Vater hat eine Bar, wo nur Säufer verkehren. So beschreibt das Ernaux selbst. Ihre Mutter betreibt einen schäbigen Krämerladen, wo Fliegen über dem Käse schwirren. Sie schämt sich für ihre ungebildeten Eltern und möchte ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu ausradieren. Das macht sie in ihrem ersten Roman zum Thema.
Im Kern geht es um eine Abtreibung, die Ernaux selbst erlebt hat und die sie in «Die leeren Schränke» zum ersten Mal thematisiert. Später wurde das Erlebnis auch in anderen Romanen beschrieben, ganz detailliert in «L’Évenement» und im gleichnamigen Film aus dem Jahr 2021.
Die Geschichte lässt sich in wenigen Sätzen umreissen: Denise Lesur ist 20 Jahre alt, Literaturstudentin. Sie wartet in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim darauf, dass der Fötus abgeht, nachdem sie im Verborgenen behandelt wurde. Es ist das Jahr 1961, Schwangerschaftsabbrüche sind in Frankreich verboten. Während Denise also wartet, sinniert sie über die Gründe nach, die sie an diesen Punkt gebracht haben.
Zwischen Hass und Scham
Ernaux' Figur ist zwischen der katholischen Schule und ihrem Herkunftsmilieu zerrissen. Sie entwickelt Scham und Hassgefühle, von denen sie sich befreien muss. Und da gibt es einen sehr treffenden Satz – im Übrigen den einzigen, der sich in diesem Erstling als bemerkenswert unterstreichen lässt: «Den Arsch zwischen den Stühlen, so entsteht Hass, ich musste mich entscheiden.»
Entscheiden Sie selbst, ob Sie das Debüt von Ernaux lesen wollen.