Der 48-jährige deutsch-österreichische Autor Daniel Kehlmann ist seit seinem Roman «Die Vermessung der Welt» (2005) ein Star.
Ein Millionenpublikum hat die fiktive Doppelbiografie von Mathematiker Carl Friedrich Gauss und Naturforscher Alexander von Humboldt gelesen. Auch «Tyll», Kehlmanns letzter Roman (2017), der vom Dreissigjährigen Krieg handelt, stand monatelang auf den Bestsellerlisten.
In seinem lange erwarteten neuen Roman «Lichtspiel» knöpft sich Kehlmann die Zeit des «Dritten Reichs» vor. Im Zentrum steht der 1885 geborene Österreicher Georg Wilhelm Pabst. Zusammen mit Fritz Lang und Friedrich Murnau war er der wichtigste Filmemacher der Weimarer Republik.
Georg Wilhelm Pabst entdeckte auch die späteren Superstars Greta Garbo und Louise Brooks. Mit Garbo drehte er den sozialkritischen Film «Die freudlose Gasse» (1925). Mit Brooks den geschlechterkritischen Film «Die Büchse der Pandora» (1929). Beide Filme gehen noch heute unter die Haut.
Andererseits stand Pabst im Ruf, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Genau da setzt Daniel Kehlmann an.
Kein Erfolg in Hollywood
«Lichtspiel» beginnt mit Pabsts Scheitern in Hollywood, wohin er nach Hitlers Machtergreifung 1933 emigriert war. Er hatte gehofft, dort sein sozialkritisches Werk weiterführen zu können. Aber man wollte ihn nur als Unterhaltungsfilmer. Pabst drehte einen einzigen Auftragsfilm. Er floppte.
Trotz dieses Misserfolgs hätte der Filmemacher in den USA bleiben können. Auch viele andere Emigranten nahmen damals Arbeit weit unter ihrem Niveau in Kauf. Stattdessen kehrte er nach Europa zurück, drehte in Frankreich und ging kurz nach Österreich. Dann brach der Krieg aus.
Erpresst von den Nazis
Pabst wurde eine Geisel der Nazis, erpressbar als «der rote Pabst». In einer gespenstischen Szene in «Lichtspiel» macht ihm NS-Kulturminister Joseph Goebbels klar, dass er sich nicht verweigern könne. Er muss Filme drehen, Nazi-Filme: «Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann, zum Beispiel KZ. Jederzeit.»
Der Regiestar sass in der Falle. Daniel Kehlmann zeigt in seinem Roman eindringlich, wie Pabst sich hinter seinem Arbeitsethos verschanzt. Die Filmkunst dient ihm als eine Art Schutzschild. Indem er auf ihr herumreitet, blendet er die Wirklichkeit aus.
Statisten aus dem Konzentrationslager
Gegen Ende des Kriegs verfilmt der einstige Sozialkritiker den süsslichen Roman eines Naziautors. Und beschäftigt, ohne einen Gedanken zu verlieren, Statisten aus einem Konzentrationslager.
Er sieht in ihnen keine Opfer, sondern Diener eines Kunstwerks, das sein bestes werden soll. «Alles geht vorbei», sagt er. «Aber die Kunst bleibt.»
Intensiv recherchiert
Auf fast 500 Seiten umkreist Daniel Kehlmann eine gespenstische Figur in einer gespenstischen Epoche. Zwar drehte Georg Wilhelm Pabst nie einen Nazi-Propagandafilm und war vielleicht noch nicht einmal ein Opportunist. Aber sein sturer Schaffensdrang hat etwas Verstörendes. Kehlmann erzählt davon in einer Fülle von Details – «Lichtspiel» ist intensiv recherchiert.
Gleichzeitig hätte dem Pageturner etwas Luft gutgetan. Das reiche historische Material hat die Tendenz, zum Klischee zu gerinnen. Ähnlich die Figuren: Sie bleiben holzschnittartig.
Trotzdem stellt «Lichtspiel» die grosse Frage nach der persönlichen Verantwortung in einer schwierigen Zeit.