Lange hat es gedauert, bis zum Erscheinen von Jonas Lüschers drittem Roman. Für «Kraft», seinen literarischen Wurf über die Ideologie des Silicon Valley, hatte der in München lebende Schriftsteller und Essayist 2017 den Schweizer Buchpreis erhalten.
Danach: lange Pause. Nicht zuletzt, weil Lüscher 2020 schwer an Covid-19 erkrankte. Er lag im Koma, überlebte nur knapp. Und dies durch die Hilfe von Maschinen: «Man hatte nahezu jede erdenkliche Maschine, die die Spitzenmedizin in ihrem Arsenal vorrätig hielt, um mein Bett versammelt und an meinen Körper angeschlossen, mein Leben war vollständig vom Funktionieren dieser Geräte abhängig, ich war ein Cyborg; mehr Cyborg war kaum möglich.»
Zwischen Raum und Zeit
In seinem neuen Text mit dem verrätselten Titel «Verzauberte Vorbestimmung» verarbeitet Lüscher diese existenzielle Erfahrung. Er stellt darin auch die Frage, wie eine generelle Skepsis gegenüber der Technik damit vereinbar ist, dass sein Überleben von modernster Technik abgehangen hatte.
Tatsächlich ist das ambivalente Verhältnis «Mensch-Maschine» ein prägendes Motiv im neuen Roman. Dabei macht die Krankengeschichte inhaltlich nur einen kleinen Teil aus. Formal jedoch prägt sie das Buch. Der ganze Text lässt sich als eine Ausformulierung dessen lesen, was Jonas Lüscher und sein Ich-Erzähler auf der Covid-Station erlebt haben. Wie in den fieberhaften Traumerfahrungen, von denen Lüscher gegen Ende berichtet, überblenden sich Raum und Zeit.
Lüscher greift weit aus und vereint mehrere selbstständige Geschichten. Erzählend bewegt er sich auf unterschiedlichen Realitäts-, Orts- und Zeitebenen.
Giftgas und Maschinenstürmer
Zu Beginn betreten wir ein Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg – wo die Technik nicht zur Rettung, sondern zur massenhaften Vernichtung eingesetzt wird. In Lüschers Erzählung verlässt ein algerischer Soldat das Schlachtfeld bei Ypern. Er bewirkt wundersamerweise, dass auch der Feind zu kämpfen aufhört.
Später führt seine Erzählreise zum Beginn der industriellen Revolution. In Varnsdorf, dem «Manchester Böhmens», erleben traditionelle Weber die Einführung von mechanischen Webstühlen. Einzelne werden zu gewaltbereiten «Maschinenstürmern».
Gegen Ende der komplexen Erzählung landen wir in einem Ägypten der Zukunft – in gigantischen künstlichen Städten in der Wüste. Menschen sind hier schon KI-gesteuerte Androiden, kaum noch von Maschinen zu trennen.
Komplexe Realitäten
Lüschers Text ist sorgfältig gedacht, sehr dicht und mitunter brillant geschrieben. Er fordert viel, denn er ist mehrfach verschachtelt erzählt. «Süffig» erzählt Lüscher bewusst nicht. Er fordert auf, zu kombinieren, literarische Rätsel zu lösen.
Dabei thematisiert er das Erzählen selbst. Wie in der böhmischen Weberei werden Stoffe verwoben, komplexe Realitäten neu geordnet. So wird der algerische Soldat vom Anfang des Romans bei Lüscher zu jenem französischen Briefträger, der mit seinem «Palais Idéal» in Hauterives bei Lyon über Jahrzehnte eines der surrealsten Bauwerke überhaupt geschaffen hat.
Der Text wird zum Streifzug durch Literatur- und Kunstgeschichte. Wer zu dieser Expedition aufbricht, braucht Geduld und Lust, sich von Lüschers Erzählmaschine in Bewegung setzen zu lassen. Um in regelmässigen Lesepausen neuen Impulsen nachzuspüren.