Neuer Roman von Lukas Maisel - Wie ein sowjetischer Offizier den Dritten Weltkrieg verhinderte
Oberstleutnant Stanislaw Petrow behält 1983 einen kühlen Kopf und verhindert so im Alleingang einen Atomkrieg. Der Schweizer Autor Lukas Maisel macht Petrow zum Helden in seinem Tatsachenroman «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete».
Herbst 1983. Kalter Krieg. Das Klima zwischen den Supermächten USA und UdSSR ist frostig. Die Angst vor dem Dritten Weltkrieg grassiert. Hüben wie drüben. Auch in der streng geheimen sowjetischen Zentrale für Raketenüberwachung nahe Moskau.
Eine wahre Geschichte
Es ist die in Nacht vom 25. auf den 26. September 1983. Das Kommando führt Oberstleutnant Stanislaw Petrow. Lukas Maisel macht den 44-Jährigen zur Hauptfigur in seinem sorgfältig recherchierten Tatsachenroman.
Der Autor schildert seine Figur als zurückhaltenden, besonnenen Menschen: «Nicht das Abwarten brachte einen in Schwierigkeiten», pflegt Petrow zu sagen, «sondern das überstürzte Handeln».
Es ist 15 Minuten nach Mitternacht. Da, plötzlich: Alarm! Das computergestützte Frühwarnsystem meldet anfliegende Interkontinentalraketen. «Petrow starrte auf die Landkarte, wo ein Quadrat um eine der amerikanischen Basen aufleuchtete», schreibt Maisel. «Das kann nicht sein, dachte Petrow. Es leuchtet, blutrot leuchtet es, aber geschieht das gerade wirklich?»
Die Doktrin bei einem amerikanischen Erstschlag ist eindeutig: Die Sowjetunion antwortet unverzüglich. Nuklear. Stanislaw Petrow müsste jetzt dem Kreml Meldung machen. Und dort würde der Staatschef – der todkranke Juri Andropow – den Gegenschlag autorisieren: roter Knopf. Atomkrieg. Der Alarm wird sich später als Fehlalarm erweisen. Er beruhte auf Kinderkrankheiten des noch jungen Überwachungssystems.
Wäre ein Vorfall wie 1983 heute wieder möglich?
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Die Sicherheitsexpertin Névine Schepers arbeitet am Center for Security Studies der ETH Zürich. Zu ihren Forschungsgebieten gehören nukleare Rüstung, Abrüstung und Abschreckung.
SRF: Wie gross war die Gefahr eines Atomkriegs tatsächlich aufgrund des Fehlalarms von 1983?
Névine Schepers: Die Gefahr war gross. Die Atomwaffen waren innerhalb von Minuten startbereit. Aufgrund der hohen Spannungen rechneten die Verantwortlichen damit, dass jederzeit ein Angriff erfolgen könnte. Die nukleare Reaktion blieb nur dank Stanislaw Petrow aus. Er hinterfragte kritisch den Kontext des vermeintlichen Angriffs und die Daten, die das System lieferte. Er entschied, sich nicht an das vorgegebene Prozedere zu halten.
Führte der Vorfall damals zu Veränderungen bei den Atommächten?
Der Vorfall blieb bis in die 1990er-Jahre geheim. Nur die sowjetische Führung wusste davon. Dass sie sofortige Änderungen an den Kommando- und Kontrollstrukturen vorgenommen hätte, ist nicht bekannt. Sie investierte weiterhin in die Frühwarninfrastruktur.
Wäre eine solche Situation heute noch möglich?
Bis zu einem gewissen Grad, ja. Das strategische Umfeld ist extrem angespannt und Atommächte haben zunehmend Elemente der KI in Frühwarnsysteme zur Erkennung und Datenverarbeitung integriert. Diese Systeme haben sich seit den 1980er-Jahren zwar verbessert, haben aber noch immer ihre Limitierungen. Auch bleiben die Zeitfenster für nukleare Entscheidungen extrem kurz. Der Druck au die Führungskräfte ist noch immer enorm hoch.
Welche Rolle spielen Menschen – und nicht Computersysteme – in den Plänen der Atommächte, auf einen Erstschlag mit einem Gegenschlag zu reagieren?
Es gibt zwar Unterschiede zwischen den einzelnen Atomwaffenstaaten. Generell sind jedoch Menschen an verschiedenen Stellen in die nuklearen Entscheidungsprozesse integriert. Und am Ende sind es die Staatsoberhäupter, welche die Starts genehmigen. Allerdings gibt es Bestrebungen, die KI besser zu nutzen, um nukleare Entscheidungen zu unterstützen. Man geht davon aus, dass nur Russland mit dem System «Perimeter» ein automatisiertes nukleares Antwortsystem unterhält, falls die russische Führung in einem Erstschlag ausgeschaltet würde.
Das Gespräch führte Felix Münger.
Wie entscheiden?
In jener Schicksalsnacht ist die Last der Verantwortung gewaltig, die auf Stanislaw Petrow liegt. Melden, oder nicht melden? Die Zeit drängt. Maisel schreibt: «Er wusste, wie schwerwiegend seine Entscheidung war: Wenn er einen Fehler machte, dann konnte diesen Fehler niemand korrigieren.»
Legende:
Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow in seinem Apartment im Jahr 2004.
IMAGO/Newscom/SCMP
Stanislaw Petrow entscheidet sich. Nichts tun. Wenn er falsch liegt, würden in wenigen Minuten die Raketen niedergehen: «Sein Mund war ausgetrocknet. Ich könnte, dachte er, nicht einmal spucken, wenn ich wollte. … Wie kurz vor dem Gang nach Golgatha fühle ich mich. Ob Christus wohl ausspucken konnte, als er den Hügel hochging?»
Passagen wie diese, in denen Lukas Maisel in die Psyche seiner Figur vordringt, zählen zu den stärksten des Buchs. Leider sind sie zu selten, sodass Stanislaw Petrow insgesamt seltsam blass erscheint, unterkomplex und in seinem Handeln nicht verständlich.
Legende:
Bei einem Festakt in der Semperoper ist der sowjetische Veteran Stanislaw Petrow mit dem Dresdner Friedenspreis 2013 geehrt worden.
IMAGO/Max Stein
Dies mindert die Dringlichkeit des Buchs. Obwohl es gerade heute brandaktuell ist, wo Russland in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine die Angst vor dem Atomkrieg schürt. Oder wo – ganz grundsätzlich – digitalisierte Gesellschaften vor der Frage stehen, wie viel Macht sie den Algorithmen überlassen wollen.
Ungenutztes Potenzial
Gerne hätte man erfahren, woher Stanislaw Petrow die Charakterstärke nahm, im entscheidenden Moment nichts – und damit eben das Richtige – zu tun. Der Militär war gewohnt, Befehle auszuführen und wurde im diktatorischen Sowjetstaat sozialisiert.
Wie geht dies zusammen mit dieser eindrucksvollen Unabhängigkeit im Denken und Handeln? Welche Rolle spielte möglicherweise die Lebenswelt dieses Mannes? Lukas Maisels Buch ist durchaus lesenswert. Die Geschichte des einsamen Helden Stanislaw Petrow, der 2017 arm und vereinsamt starb, hätte jedoch das Potenzial zu mehr geboten.
Buchhinweis
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Lukas Maisel: «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete». Rowohlt, 2025.
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