Zwei weisse Jugendliche – irgendwo in einem kleinen Dorf auf dem Lande – fangen einen unschuldigen Flüchtling aus den Komoren auf der Landstrasse ab, schlagen ihn zusammen und werfen ihn in den Fluss. Die Bevölkerung ist schockiert und fragt sich: Woher kommt diese bodenlose Wut?
In dieser Situation giesst der Radiojournalist Gabriel Öl ins Feuer. Er kennt die beiden Teenager und sagt öffentlich: «Der Tod dieses Mannes kümmert mich weniger als das Schicksal der beiden jungen Leute, die hier zu Hause sind.»
Der Satz genügt, um aus dem allseits geschätzten Intellektuellen eine «persona non grata» zu machen: Von nun an wird Gabriel auf offener Strasse angepöbelt, erhält Hassmails und muss – auf Druck der Redaktionskollegen – seinen Posten beim Radio verlassen. Selbst Freunde wenden sich von ihm ab.
Selbstmord aus Verzweiflung
Nach aussen hin bleibt Gabriel der coole Blender, dem diese Ausgrenzung nichts anhaben kann. Ja, der Zyniker scheint an seiner Provokation sogar Gefallen zu finden. Aber innerlich wächst offenbar die Verzweiflung ins Unerträgliche.
Als Clara, seine zweite Frau, von einer Auslandreise zurückkehrt, findet sie ihn tot in der Wohnung. Er hat neun Glasscherben eines zertrümmerten Wodkaglases verschluckt und ist an inneren Blutungen gestorben.
Emotionen fehlen
Ania, Gabriels einzige Tochter, erfährt am Telefon vom Tod des Vaters. Sie hat den Kontakt zu ihm schon länger abgebrochen und scheint kaum betroffen von seinem Selbstmord. Und doch wird sie in den folgenden Tagen oft vor dem aufgebahrten Körper stehen und sich über ihre Beziehung zu Gabriel Rechenschaft ablegen.
Was war dieser Mann eigentlich für ein Mensch? Wie konnte es geschehen, dass sich sein Blick auf die Welt in den letzten Jahren so radikal verändert hatte? Und warum schied er freiwillig aus dem Leben?
Ein Tabu-Thema in Frankreich
«Autopsie des Vaters» ist einerseits die sehr persönliche, intime Geschichte einer ambivalenten Vater-Tochter-Beziehung. Andererseits greift Pascale Kramer ein Thema auf, das in Frankreich tabu ist: Die erstaunlichen Kehrtwenden vieler Intellektueller, die einst linke Positionen vertraten und sich nun zum Teil sogar mit einer Marine Le Pen solidarisieren. Das Buch enthält politischen Sprengstoff.
Anders als zum Beispiel in Belgien oder der Romandie, wo «L’autopsie d’un père» bei Erscheinen hervorragende Kritiken erhielt, blieb es in Frankreich erstaunlich still: Kaum eine Feuilletonredaktion setzte sich mit dem Roman auseinander.
Volatile Haltungen
Pascale Kramer, die seit mehr als 30 Jahren in Paris lebt, spürt, dass sie hier einen wunden Punkt in der französischen Gesellschaft berührt hat. «Die politischen Haltungen sind volatil geworden», sagt sie, «man hat keine Ahnung mehr, wer überhaupt für was einsteht».
Dahinter vermutet die Autorin eine zunehmende Entfremdung vieler Intellektueller: «Sie erkennen ihre Heimat nicht wieder und haben Mühe, ihr Land als multikulturellen Ort zu akzeptieren.» Das sei letztlich wohl der Grund gewesen, warum sich Gabriel umgebracht habe: «Die Trauer über eine vergangene Zeit, die sich nicht wieder einstellt».
Grand Prix Literatur 2017
Dieses Jahr hat die gebürtige Genferin den «Grand Prix Literatur 2017» gewonnen – die höchste literarische Auszeichnung in der Schweiz. Man lobt sie als «romancière de l’intime» – als die Chronistin des Privaten. Und genau darin liegt auch ihre Stärke: im Analysieren und Beschreiben der Ambivalenz zwischenmenschlicher Beziehungen.
Mit «Autopsie des Vaters» erweist sie sich auch als wache Zeitgenossin, die sich nahe am Puls der Zeit bewegt. Ihre Literatur ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Private immer auch politisch ist, – und das Politische letztlich immer Konsequenzen hat bis ins Innerste eines jeden Menschenlebens.
Sendung: Radio SRF2 Kultur, 52 beste Bücher, 03.09.2017, 11.03 Uhr