Schon in ihrem Debütroman zeigte die Schweizer Autorin Gianna Molinari ein Faible für ungewöhnliche Orte und Ideen. «Hier ist noch alles möglich» spielte in einer stillgelegten Fabrik, in der ein Wolf gejagt wurde. Das Debüt war 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Auch jetzt, in ihrem zweiten Buch «Hinter der Hecke die Welt», beweist Molinari wieder viel Originalität und einen Hang zu Symbolen.
Ein Dorf mit grosser Hecke drumherum
Der Roman spielt in einem abgelegenen Dorf. Wie das Dorf heisst, wird nicht gesagt. Auch nicht, wo es sich befindet. Jedoch erfährt man, dass das Dorf von einer stetig wuchernden Hecke umgeben ist.
Während die Hecke wächst, herrscht sonst in dem Ort nur Stillstand. Es gibt keine Schule mehr. Die meisten Häuser stehen leer. Leer ist auch die Dorfkasse. Ja, nicht einmal die Kinder werden grösser.
Pina und Lobo, die einzigen Kinder im Dorf, haben seit Jahren keinen Zentimeter mehr zugelegt. Regelmässig kommen «Spezialisten» ins Dorf, um die zwei jungen Menschen zu vermessen. Aber – es tut sich nichts.
Dabei warten alle nur darauf, dass Pina und Lobo endlich wachsen. Kinder seien schliesslich die Zukunft, sagen sie.
Szenenwechsel in die Arktis
Neben dem Dorf gibt es noch einen zweiten Handlungsort: den Nordpol. Zwischen diesen beiden Schauplätzen springen die Kapitel hin und her.
Pinas Mutter Dora hat das Dorf verlassen. Sie ist auf einem Forschungsschiff in der Arktis unterwegs. Dort dokumentiert sie, wie das Eis schmilzt. Jene Kapitel über Dora in der Arktis stimmen einen beim Lesen besonders wehmütig.
Stilprägende Recherche
Ihrer Tochter schickt Dora regelmässig Sprachnachrichten. Sie erzählt Pina, was sie über die Arktis weiss, beschreibt, wie kalt es ist, welche Tiere es dort einst gab und welche es (noch) gibt.
Seite für Seite spürt man beim Lesen die akribische Recherchearbeit, die in diesem Roman steckt. Die Autorin Gianna Molinari war nämlich selbst auf einem Forschungsschiff in der Arktis unterwegs. Ihre Beobachtungen sind stark in den Roman eingeflossen.
Nicht nur die eisigen Eindrücke, auch den Ton könnte Gianna Molinari auf ihrer Reise gefunden haben. Denn ihre Sprache ist durchweg kühl und distanziert. Ein ganz eigener, melancholisch stimmender Rhythmus weht durch diesen Roman.
Viel Interpretationsspielraum
«Hinter der Hecke die Welt» ist kein Buch, das von einer rasanten Szene zur nächsten jagt. Er lebt nicht von der Handlung, sondern davon, dass Molinari sich die Zeit genommen hat, die Dinge ganz genau zu betrachten.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Und: Er lädt dazu ein, sich selbst Gedanken zu machen: Wird Pinas Mutter je ins Dorf zurückkehren? Warum wuchert die Hecke dermassen? Und wieso werden die Kinder nicht grösser? Wollen sie womöglich gar nicht mehr wachsen? Haben Sie genug vom «Höher, schneller, weiter!»-Credo der Alten?
Vieles bleibt offen in diesem Roman. Und genau das ist das Schöne: Er befiehlt nichts, lotet aber sehr viel aus.