Kaum eine Autorin hat in den letzten Jahren so viel Begeisterung ausgelöst bei Kritik und Leserschaft wie Elena Ferrante.
15 Millionen Mal hat sich ihre neapolitanische Saga «Meine geniale Freundin» inzwischen weltweit verkauft. Da scheint es eine Herausforderung zu sein, an solch einen Erfolg anzuknüpfen – Ferrante meistert sie bravourös.
Neuer Schauplatz: das wohlhabende Neapel
Ihr neuer Roman «Das lügenhafte Leben der Erwachsenen» erzählt die Geschichte der 13-jährigen Giovanna, die im Neapel der frühen 90er-Jahre aufwächst. Doch diesmal erweitert Ferrante ihren Schauplatz geografisch und sozial: Denn Giovanna wohnt mit ihren Eltern im «Rione Alto», dem wohlhabenden Teil der Stadt.
Eines Tages – Giovanna ist gerade 13 – hört sie, wie ihr Vater zu ihrer Mutter sagt, sie sei sehr hässlich und komme ganz nach seiner verhassten Schwester Vittoria. Das setzt ihr derart zu, dass sie sich auf den Weg macht, Vittoria zu suchen. Sie findet sie in der «Zona Industriale», einer Gegend, in der Armut und Kriminalität den Alltag bestimmen.
Die Fassade der Erwachsenen bröckelt
Für sie ist es eine Überraschung zu entdecken, dass ihr eigener Vater dieses Viertel radikal hinter sich gelassen, und sich von seiner Herkunft – vor allem aber von seiner berühmt-berüchtigten Schwester Vittoria – abgewandt hat.
Doch bei dieser Überraschung wird es nicht bleiben. Immer mehr lässt Ferrante die Fassade der Erwachsenenwelt bröckeln. Eines Tages beobachtet Giovanna beispielsweise zufällig, wie der beste Freund des Vaters unterm Tisch mit ihrer Mutter füsselt. Kurz darauf erfährt sie, dass ihr Vater jahrelang eine Geliebte hatte – und dass diese Affäre sogar bereits vor ihrer Geburt begann.
Zwischen Lüge und Wahrheit, Schein und Sein
Immer mehr versucht Giovanna, das Netz aus Geheimnissen, Lügen und Täuschungen zu entwirren – und entdeckt dabei für sich selbst, dass Lügen manchmal auch befreiend und hilfreich sein können.
«Vielleicht wäre alles unkomplizierter, wenn man die Wahrheit sagen würde.»
Elena Ferrante ist eine Meisterin der Ambivalenzen und Doppelbödigkeiten. Ihr ungeheures Gespür für die komplexe menschliche Psyche macht das Wechselspiel zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Schein und Sein so aufregend.
Die angeblich so hässliche Schwester des Vaters beispielsweise ist sehr schön. Und zwar so schön, dass Giovanna den «dringenden Wunsch» hat, «sie als hässlich anzusehen» – um nicht mit der eigenen Schönheit und ihren Implikationen konfrontiert zu sein.
Kritik am italienischen Patriarchat
Ganz nebenbei entwickelt Ferrante zudem eine handfeste Kritik an den männerdominierten Strukturen der italienischen Gesellschaft.
«Ängstlich wartete ich, dass die Direktorin ihm (meinem Vater) antwortete. Sie tat es mit devoter Stimme, nannte ihn Professore, war so betört, dass ich mich schämte, als Mädchen geboren zu sein, dazu bestimmt, mich auf diese Weise von einem Mann behandeln zu lassen, selbst als studierte Frau, die ein wichtiges Amt bekleidete.»
Mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte
Auf den ersten Blick ist «Das lügenhafte Leben der Erwachsenen» ein klassischer Coming-of-Age-Roman, der sich mit pubertären Fragen wie «Wer bin ich?», «Wo gehöre ich hin?» oder «Bin ich schön?» befasst. Zweifel an den Eltern und der eigenen Herkunft, Boshaftigkeiten, Zärtlichkeiten unter Freundinnen und erster Sex inklusive.
Nur wäre diese Autorin nicht so faszinierend, wenn dahinter nicht auch immer die tiefere Erkenntnis verborgen wäre, dass wir alle auch als Erwachsene noch einen letzten Rest von Unreife in uns tragen. Manche mehr, manche weniger.