Jon Fosse sass gerade im Auto, als ihn der Anruf von Mats Malm erreichte. Malm ist der Sprecher der Schwedischen Akademie – und er ist es gewöhnt, dass seine Anrufe zunächst für einen Scherz gehalten werden. Jon Fosse jedenfalls konnte es nicht glauben: Er erhält den Nobelpreis für Literatur 2023.
Fosse ist der vierte Norweger, dem diese Ehre zuteilwird. Und inzwischen weiss er, dass Malms Anruf kein Scherz war: «Ich bin überwältigt», sagte Fosse der schwedischen Zeitung «Svenska Dagbladet». Er sei «sehr, sehr froh». Gleichzeitig habe er aber auch Angst vor all der Aufmerksamkeit, die der Nobelpreis mit sich bringe.
Scheu vor der Öffentlichkeit
Dass Jon Fosse sich über die Aufmerksamkeitswelle, die nun angerollt ist, nicht so recht freuen kann, verwundert nicht. Schon vor Jahren hat sich Fosse aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen: 2012 erlitt er einen Zusammenbruch und eine Alkoholvergiftung. Neben der Öffentlichkeit meidet er seither auch den Alkohol.
Jon Fosse wurde 1959 geboren. Aufgewachsen ist er an der südnorwegischen Küste, am Hardangerfjord. Die raue Melancholie dieser Landschaft prägt bis heute seine Geschichten, die Wellen des Meeres den Rhythmus seiner Sprache.
Nahtod-Erlebnis als Kind
Im Alter von sieben Jahren hatte Fosse einen Unfall, bei dem er beinahe ums Leben gekommen wäre. Dieses Erlebnis brachte ihn zum Schreiben. Er habe angefangen zu schreiben, weil er sich fremd gefühlt habe gegenüber seinen Mitmenschen, sagte er einmal in einem Interview. Schreibend wollte er die Distanz überbrücken.
Zunächst schrieb Fosse Lyrik und Prosa. Er debütierte 1983 mit Roman «Raudt, svat» («Rot, schwarz»), einem düsteren Buch. Es handelt von einem Halbwüchsigen, der seinem engstirnigen Elternhaus entfliehen will und versucht, sich das Leben zu nehmen.
Düstere Texte und Themen
Ab Mitte der 1990er Jahre schrieb Jon Fosse vorrangig Theaterstücke. Einige davon wurden auch im Schauspielhaus Zürich aufgeführt. Sein dramatisches Werk hat Fosse bekannt gemacht.
Schon lange galt er als Anwärter auf den Nobelpreis. Nun hat er ihn also bekommen. Mats Malm von der Schwedischen Akademie begründete die Wahl damit, dass Fosse dem «Unsagbaren eine Stimme» gebe.
Fosses Stücke sind oft beklemmende Kammerspiele. Er zeigt Figuren mit gescheiterten Lebensentwürfen. Diese Figuren sagen meist nicht viel. Und genau darin besteht Fosses grosse Kunst: Er zeigt die Tragik der menschlichen Existenz mit den Worten, die nicht gesagt werden. Seine Figuren können weder vor noch zurück. Sie sind gefangen in Einsamkeit.
Gefühl völliger Verlorenheit
Seit seiner Alkoholvergiftung schreibt Jon Fosse keine Theaterstücke mehr. Heute fokussiert er sich auf Romane und arbeitet an der Fortsetzung einer Heptalogie, also eines siebenteiligen Roman-Zyklus.
Auswahl an Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern
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Bild 1 von 8. 2022: Annie Ernaux. Letztes Jahr wurde die Französin Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Die 1940 in der Normandie geborene Ernaux schreibt Bücher über sich und ihre Herkunft. Sie werde geehrt «für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt», so das Komitee. Bildquelle: Reuters/TT News Agency.
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Bild 2 von 8. 2019: Peter Handke. Die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis für den umstrittenen Österreicher Peter Handke blieb 2019 nicht ohne kritische Kommentare. Zwar wurde seine literarische Kompetenz kaum in Zweifel gezogen – doch dass er sich in den Balkankriegen Ende der 1990er-Jahre radikal auf die Seite der Serben schlug, wurde ihm von seinen Kritikern nie verziehen. Bildquelle: Reuters/Christian Hartmann.
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Bild 3 von 8. 2016: Bob Dylan. Einigermassen überraschend wurde 2016 der US-Singer/Songwriter Bob Dylan mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Schlagzeilen sorgten die Anekdoten danach: Dylan nahm das Telefon aus Schweden nicht ab, er fuhr im Dezember nicht zur Preisverleihung nach Stockholm. Erst Anfang April 2017 holte er die Medaille dort ab. Bildquelle: Reuters/Ki Price.
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Bild 4 von 8. 1982: Gabriel García Márquez. Der 2014 verstorbene Kolumbianer Gabriel García Márquez erhielt den Literaturnobelpreis 1982 «für seine Romane und Kurzgeschichten, in denen sich Fantastisches und Realistisches in einer reich komponierten Fantasiewelt vereinen und das Leben und die Konflikte eines Kontinents widerspiegeln», wie das Nobelpreiskomitee schrieb. Bildquelle: Keystone/Mario Guzman.
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Bild 5 von 8. 1954: Ernest Hemingway. Ernest Miller Hemingway erhielt den Literatur-Nobelpreis im Jahr 1954. Der US-Schriftsteller gilt als einer der meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts überhaupt. Geehrt wurde er für «seine Beherrschung der Erzählkunst (...) und für den Einfluss, den er auf den zeitgenössischen Stil ausgeübt hat.» Hemingway starb 1961 im Alter von 61 Jahren. Bildquelle: Nobel Foundation Archive.
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Bild 6 von 8. 1953: Winston Churchill. Der britische Premierminister von 1940-1945 und 1951-1955 war auch ein erfolgreicher politischer Autor – und erhielt 1953 den Nobelpreis für Literatur. Das Nobelpreiskomitee begründete dies mit Churchills «Beherrschung der historischen und biografischen Beschreibung sowie für seine brillante Redekunst bei der Verteidigung hoher menschlicher Werte». Bildquelle: Nobel Foundation Archive.
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Bild 7 von 8. 1946: Hermann Hesse. Hermann Hesse wurde 1877 im deutschen Calw geboren, lebte später aber in der Schweiz und war schliesslich Bürger von Basel und Bern – insofern gilt der Literaturnobelpreisträger von 1946 als Schweizer. Geehrt wurde er «für seine inspirierten Schriften, die (...) die klassischen humanitären Ideale und hohe Stilqualitäten veranschaulichen». Bildquelle: Nobel Foundation Archive.
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Bild 8 von 8. 1919: Carl Spitteler. Der Schweizer Carl Spitteler erhielt den Nobelpreis für Literatur im Jahr 1919. Spitteler ist der einzige gebürtige Schweizer, der diese Ehrung je erhalten hat. Das Nobelpreiskomitee sprach ihm den Preis «in besonderer Würdigung seines Epos ‹Olympischer Frühling›» zu. Bildquelle: Nobel Foundation Archive.
Wie in den Theaterstücken arbeitet Fosse auch in der Prosa mit einer reduzierten Sprache und vielen Wiederholungen von Worten oder Sätzen. Auch hier geht es um die Unfähigkeit, das Richtige, ja, das eigentlich Wichtige zu sagen. Um das Gefühl völliger Verlorenheit, das Fosse selbst kennt.
«Über die wesentlichsten Dinge des Lebens kann man nur in der Kunst sprechen», hat Fosse einmal in einem Interview gesagt. Seine Kunst hat Fosse nun zum wichtigsten Literaturpreis der Welt geführt.
Mit Material der Agenturen