Die Familie sei ein dankbares Terrain für Geschichten, sagte Pascale Kramer einmal in einem Interview: «Weil sich gerade in dieser Nähe die schlimmsten Katastrophen abspielen.»
In ihrem neuen Roman verdichtet sie ihr ganzes Können, das sie im Umgang mit diesem Thema auszeichnet. Gnadenlos leuchtet sie die Abgründe ihrer Figuren aus und zeigt, wie sich Menschen in emotionalen Ausnahmesituationen verändern.
Eine neue Enkelin
Danielle und Olivier freuen sich auf die Geburt eines weiteren Grosskindes – Tochter Lou wird zum zweiten Mal Mutter. Die Familie trifft sich in Bordeaux. Bruder Edouard reist an, sogar Schwester Mathilde fliegt überraschend aus Barcelona ein.
Aber schon bald merkt man: Das Glück wird überschattet durch einen Abwesenden. Romain, der einzige Sohn aus Danielles erster Ehe und das schwarze Schaf der Familie, scheint spurlos verschwunden. Ausgerechnet jetzt.
Viele Perspektiven, ein Bild
Geschickt wechselt Pascale Kramer «Eine Familie» fünfmal die Erzählperspektive: jedes Familienmitglied hat in diesem Buch eine Stimme – alle ausser Romain.
Und so setzt sich für uns Leserinnen und Leser – aus unterschiedlichen Erinnerungen, Beobachtungen und Emotionen – langsam ein Bild dieses Mannes zusammen.
Der Teufel Alkohol
Romain muss einst ein gutmütiger, sanfter Kerl gewesen. Aber irgendwann begann er zu trinken. Er soff sich regelmässig ins Koma. Diese Sucht zerstörte allmählich nicht nur sein Leben, sondern vergiftete auch das seiner Angehörigen.
Wir entdecken dabei, dass Eltern und Geschwister ganz unterschiedliche Beziehungen zu Romain pflegen. Die einen stecken ihm regelmässig Geld zu. Andere hüten das Geheimnis, dass er längst jegliche Entzugstherapien abgebrochen und auch den Job geschmissen hat.
Mathilde weiss sogar, dass Romain Edouards Goldmünzen-Sammlung entwendet hat.
Unsichtbare Risse
Aber die Familienangehörigen schweigen sich gegenseitig aus über diese Erkenntnisse. Aus Scham ? Aus falscher Solidarität ? Oder aus Selbstschutz, weil sie auch vor sich selber die Wahrheit lieber verdrängen möchten? Kein Wunder werden sie mehr und mehr in sein Netz an Lügen verstrickt.
«Chronistin des Intimen» hat man Pascale Kramer auch schon genannt. Für ihren «präzisen Schreibstil und ihren grossen Weitblick» wurde sie 2017 auch mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet.
Einmal mehr erzählt sie auch im neuen Roman von den unsichtbaren Rissen, die quer durch eine Familie gehen. Sie hat ein untrügliches Gespür für den Schmerz, den sich nur Nahestehende zufügen können und für das Ungesagte, mit dem sich Angehörige gegenseitig zu schonen versuchen. Aber unter dem Deckel gärt es weiter.
Keine Moralistin
Pascale Kramer moralisiert dabei nicht, sie zeigt einfach auf. Genau darin besteht die Stärke ihrer Literatur: Dass sie uns einen Spiegel vorhält.
Nicht immer muss es gleich das grosse Drama sein. Wir erkennen in ihren Geschichten auch so, wo wir in unserem eigenen Leben achtsam bleiben müssen.