Ganze sieben Jahre lang hatte Dorothy Thompson versucht, Adolf Hitler zu treffen. Zuvor hatte sie als Auslandskorrespondentin bereits illustre Zeitgenossen wie Sigmund Freud oder Leo Trotzki interviewt. Kurz vor seiner Machtergreifung war auch Hitler bereit, sich an die Welt zu wenden und gewährte der US-Amerikanerin ein Interview.
Die Reportage über diese Begegnung erschien 1932 in der Zeitschrift «Cosmopolitan». Schon die ersten Sätze waren für Hitler alles andere als schmeichelhaft: «Keine 50 Sekunden»: So lange habe es gedauert, «um die verblüffende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Atem hielt».
Hitler: eine peinliche Karikatur
Dieses vermeintlich krachende Fehlurteil sollte Dorothy Thompson noch lange zum Vorwurf gemacht werden. Dabei erkennt sie die Gefahr des Nationalsozialismus durchaus.
Thompson sieht in Hitler zwar einen peinlichen Mann, «dessen Miene einer Karikatur gleicht». In ihrem Treffen gibt ihr der künftige Diktator aber auch einen Einzelunterricht in seiner Rhetorik: Anstatt die drei Fragen zu beantworten, die sie ihm stellen darf, setzt Hitler zum aufbrausenden Pamphlet an.
Da versteht Thompson, dass Hitlers Überzeugungskraft nicht in einem politischen Programm liegt, sondern in den Gefühlen, die er bei seinen Anhängern weckt.
Den Hitlerismus verstehen
Dorothy Thompson untersucht dieses Gefühl. Mit klarer Sprache, bisweilen spöttisch, aber stets hellsichtig analysiert sie den Hitlerismus. Sie erkennt, dass dieser aufgeblasene Mann mit dem lächerlichen Schnauzer gekonnt die Kränkungen, Ängste und Ressentiments seiner Zuhörer bedient.
In ihrer Reportage zeichnet sie den Aufstieg Hitlers in den 1920er-Jahren nach. Sie dokumentiert seine hypnotische Wirkung und seine Inszenierung in öffentlichen Auftritten als Mann der «kleinen Leute».
So gelangt die Journalistin im Laufe der Reportage vom vermeintlichen Irrtum, Hitler vollkommene Bedeutungslosigkeit zuzusprechen, zu einer Erkenntnis von grosser Tragweite.
Raffinierte Dramaturgie
«Ich sah in ihm den kleinen Mann. Aber vielleicht liegt darin, und gerade darin, das Geheimnis seines enormen Erfolges», lotet Thompson ihre eigene Reaktion aus. Aus ihrer Missbilligung als Beobachterin folgert sie den eigentlichen Grund seiner Popularität.
Die einleitenden, provokativen Worte über Hitlers Belanglosigkeit sind damit der Ausgangspunkt einer raffinierten Dramaturgie, wie der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich im klugen Nachwort festhält.
Komplementiert wird das Buch neben zahlreichen Abbildungen mit Thompsons Text «Abschied von Deutschland»: 1934 war die Amerikanerin aufgrund ihres Porträts über Hitler gezwungen, das Land zu verlassen. Mit dieser Ausweisung sorgten die Nazis dafür, dass die Journalistin schlagartig berühmt wurde.
Die Psychologie des Rechtspopulismus
«Ich traf Hitler!» ist eine engagierte Studie in politischer Psychologie mit einem auffallend aktuellen Warnruf: Dass uns Politikerinnen und Politiker heute als lächerlich, primitiv oder vulgär erscheinen, darf uns nicht daran hindern, ihre Wirkung ernst zu nehmen.
Damit liefert Dorothy Thompson mit ihrem Reportage-Essay aus dem Jahr 1932 nichts weniger als eine psychologische Untersuchung des Rechtspopulismus.