Der Genfer Autor Joël Dicker hat mit jedem seiner Bücher Durchschlagskraft. Angefangen hat seine Erfolgsgeschichte schon im Jahr 2012 mit seinem Debütroman «Die Wahrheit über Harry Quebert», der millionenfach über die Ladentheke ging.
Diesem Buch sind weitere gefolgt, die zwar immer auf den Bestsellerlisten rangierten, aber vom Feuilleton weniger wohlwollend aufgenommen worden sind. Insbesondere, weil Joël Dickers Schreibfertigkeiten mit jedem Buch abgenommen haben.
Raffiniert von A bis Z, doch mit der Sprache hapert es
Allzu einfache Subjekt-Verb-Objekt-Sätze, plumpe Beschreibungen und stereotype Figurenzeichnungen. All das findet man auch in Joël Dickers achtem und neustem Roman: «Ein ungezähmtes Tier». Und dennoch: Das Lesen bereitet grosses Vergnügen.
Allen sprachlichen Mängeln zum Trotz, zieht Joël Dicker mit seiner trickreichen Meisterdieb-Geschichte in seinen Bann. Der Westschweizer entwickelt die Handlung mit grosser Raffinesse. Springt in der Zeit hin und her. Das Buch funktioniert wie eine Uhr, in der jedes Uhrwerkrädchen fleissig und präzise ins andere greift.
Eine Vierecks-Beziehung in Genf
Die Geschichte beginnt in Genf. Etwas ausserhalb der Stadt, in einem privilegierten Quartier im Grünen. Dort, in einem Glaskubus direkt am Wald, lebt ein reiches und erfolgreiches Paar, das zwei bezaubernde Kinder hat. Er ist Banker. Sie ist Anwältin, «40 Jahre alt und schöner denn je», wie Joël Dicker sie beschreibt, in einem seiner gewohnt einfach gehaltenen Sätze.
Die beiden sind mit einem finanziell weniger gut gestellten Paar befreundet. Sie ist Verkäuferin, er ist Polizist. Die beiden leben in einer hässlichen Überbauung, die von der gut betuchten Nachbarschaft spöttisch als «Warze» bezeichnet wird.
Das Leben der beiden Paare entwickelt sich zu einer unheilvollen Vierecks-Beziehung aus Eifersucht und Begehren. Der Polizist will die attraktive Anwältin. Er versteckt sich in der Nacht im Wald neben ihrem Haus und beobachtet sie. Die Geschichte nimmt ihren Lauf: Es kommt zu einem Juwelenraub, den der Polizist zu verhindern hat, der aber so raffiniert ausgeführt wird, dass man es kaum glauben kann. Doch nichts ist so, wie man es vermuten würde.
Beim Lesen kommt Ferienstimmung auf
Joël Dicker spielt mit glänzenden Oberflächen, hinter denen überraschend Abgründiges steckt. Denn hinter einem der Charaktere verbirgt sich ein ungezähmtes Tier, das wie ein lauernder Panther zum Sprung bereit ist.
Joël Dickers neuer Kriminalroman besticht aber auch wegen des Schauplatzes Genf, den der Autor plastisch beschreibt. Und den temporeichen Ausflügen an die Côte d’Azur. Da kommt beim Lesen richtig Ferienstimmung auf. Der Showdown am Ende ist zudem so überraschend, dass man gerne über die sprachlichen Schwächen des Buches hinwegschaut.
Sich eine solche überzeugende Meisterdieb-Geschichte auszudenken, darin liegt Joël Dickers Stärke. Darin liegt sein Erfolg. Fazit: Joel Dicker läuft endlich wieder zu Hochform auf!