«Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.» Dieser Ausspruch des rumänisch-französischen Autors Eugène Ionesco könnte als Motto des neuen Romans «Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean gelten. Darin geht der 69-jährige Basler Autor seiner geteilten Herkunft nach. Sie ist halb schweizerisch, halb karibisch.
Bereits in früheren Werken hat Dean seinen Vater zum Thema gemacht, der von der Karibikinsel Trinidad stammte. Auch schrieb der Autor schon über seine Erfahrung des latenten Rassismus, die er in seiner Jugend in der Schweiz als Sohn einer Schweizerin und eines Schwarzen machte.
Spurensuche nach der Identität
Im neuen Roman steht die geteilte Herkunft ganz im Zentrum. Den Anstoss dafür gab – wie es im Buch heisst – ein Fotoalbum, das dem Autor vor ein paar Jahren in die Hände fiel.
Die Jahrzehnte alten Fotografien hätten ihn «wie ein Blitzschlag» getroffen, schreibt er: «Bilder aus der versunkenen Welt meiner Kindheit. Schwarz-weisse Abzüge von meiner Mutter und mir, von meinem trinidadischen Grossvater.»
Martin Dean schildert, wie er die Spur seiner Mutter aufnimmt: In den 1950er-Jahren heiratet sie Martin Deans schwarzen Vater. Nach der Geburt des Sohns reist die junge Familie in dessen Heimat Trinidad. Die Ehe geht zu Bruch.
Die Mutter kehrt mit ihrem kleinen Sohn – ohne den Vater – in die Schweiz zurück, nach Menziken im Aargau. Sie heiratet erneut. Martin Dean wächst mit Stiefvater und Halbgeschwistern auf.
Trinidad als Tabu
Die neue Familie schweigt über die Jahre der Mutter auf Trinidad. Seine schwarze Herkunft sein ein Tabu gewesen, sagt Dean. Und im Roman heisst es: «Das Dorf soll glauben, dass meine Mutter nie ausserhalb der Schweiz gelebt hat, … bei Indern und Afrikanern». Diese gelten damals als «unzivilisierte Wilde».
Das ist rassistisch. Und heuchlerisch: Denn die Schweizer Wirtschaft – etwa die Schokolade- oder Tabakindustrie – profitiert damals massiv von Rohstoffen aus Übersee. «Man kaufte den besten Tabak in Brasilien, aber erwähnte dabei die Sklavenarbeit mit keinem Wort», heisst es im Roman.
Der Kolonialismus erstreckt sich damals bis in Deans Schweizer Familie. Seine Grosseltern mütterlicherseits sind sogenannte «Stumpenarbeiter», billige Arbeitskräfte in Tabakfirmen der Region.
Nüchterner Blick
Martin R. Dean hält seine Spurensuche in sachlich-lakonischer Sprache und frei von Verurteilungen. Dies macht die Lektüre so aufwühlend.
Ganz besonders dort, wo der Autor erzählt, wie er selbst nach Trinidad aufbricht und vor Ort erfährt, dass die Vorfahren seines leiblichen Vaters ursprünglich aus Indien stammten. Die Briten verschifften sie zur Kolonialzeit – mit Hunderttausenden anderen – in die Karibik. Als Plantagenarbeiter wurden sie wie Sklaven gehalten.
«Mich erfasst ein Schwindel», notiert Dean. «Von jetzt an bin ich nicht nur der Sohn einer Stumpenfabrikarbeitertochter, sondern auch der Nachfahre von Kontraktarbeitern, die im vorletzten Jahrhundert, abgezehrt und verstört, hier gelandet sind.» Sein Körper fühle sich an, «als wäre er voller Löcher».
Martin Deans Roman ist eine Selbsterkundung – intim, vielschichtig und berührend. Und er erzählt von grösseren Zusammenhängen: vom oft problematischen Verhalten der Schweiz zur Zeit des Kolonialismus – und von ihrem fragwürdigen Umgang mit dem vermeintlich Fremden inmitten der Gesellschaft.