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«Schönwald» von Philipp Oehmke Und was, wenn Grossvater doch ein Nazi war?

Diese Frage stellt sich früher oder später in vielen Familien. In Philipp Oehmkes Roman zwingt sie eine Familie, sich weiteren unsagbaren Wahrheiten zu stellen.

Ruth Schönwald gibt als Mutter den Ton an in ihrer Familie. Sie ist zwar (beinahe) Professorin für Literaturwissenschaften, doch trotzdem ist sie überzeugt, man müsse nicht jede Kleinigkeit bis ins Detail zu Boden diskutieren.

Familiäre Grundhaltung: Kleinreden

Über gewisse Dinge solle man lieber schweigen, denn das mache uns überhaupt erst zu zivilisierten Menschen. Probleme lieber kleinreden als ernstnehmen, Einwände so einfach wie möglich abtun: Das ist die Grundhaltung, die die ganze Familie Schönwald von Ruth gelernt hat.

Durch ein Fenster sieht man eine Ausstellung über den Nationalsozialismus. Fotos von Vertretern der SS sind ausgestellt.
Legende: Was, wenn «einer von uns» zu den Tätern gehörte? Um diese Frage machen viele deutsche Familien einen grossen Bogen. IMAGO Images / Eberhard Thonfeld

Karolin, mit Anfang 40 das mittlere von drei Schönwald-Kindern, eröffnet zu Beginn des Romans eine queer-feministische Buchhandlung in Berlin. Es ist der Startschuss für ein tolles, weltoffenes Lebensprojekt, zu dem die ganze Familie anreist.

Ein heikler Vorwurf

Die Geschwister sind stolz, die Eltern zwar etwas befremdet, aber man ist ja tolerant. Doch bei der Eröffnung kommt es zum Eklat. Aktivistinnen und Aktivisten – und zwar ausgerechnet linke – verüben einen Farbanschlag auf den feministischen Buchladen. Der Vorwurf: Karolin Schönwald habe das Geschäft mit Geld aus dem Erbe ihres Grossvaters finanziert. Und der sei nachweislich ein alter Nazi gewesen.

Das als Möglichkeit anzuerkennen, bringt die Schönwalds in ihrem einstudierten Schweigen komplett aus dem Konzept. Und es droht, noch ganz andere verschwiegene Wahrheiten ans Licht kommen zu lassen. Zum Beispiel den seit Jahrzehnten unausgesprochenen Vorwurf von Ruth, dass sie ihre sichere Karriere als Professorin der Familie geopfert hat.

Verrückte Welt

Oder dass Chris, Karolins älterer Bruder, schon seit geraumer Zeit nicht mehr Literaturprofessor an der renommierten Columbia University in den USA ist, sondern nach einem #MeToo-Fall gefeuert wurde. Seitdem produziert er Podcasts für die Neue Rechte und betreibt Wahlkampf für Donald Trump.

Philipp Oehmke schreibt schon lange als Reporter für das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». Er hat seinen eng verwobenen Familienroman nach dem Vorbild der grossen US-amerikanischen Romane gestaltet.

Was ist eine «Great American Novel»?

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Great American Novel (der grosse amerikanische Roman) ist eine Kategorie im amerikanischen Literaturdiskurs. Der Begriff bezeichnet das Ideal eines Romans, der exemplarisch das Wesen der USA abbilden soll.

Diese gehen häufig vom vermeintlich Kleinen aus: von einer Familie oder einem kleinen Provinzort. Von da aus ergründen sie dann das Innerste der Gesellschaft. Philipp Oehmke überträgt dieses Konzept nun auf Deutschland.

Heuchler und Lügner

Weil es kein deutsches Pendant zum «American Dream» gibt, fehlt natürlich ein gewisses Flair von Grösse und Glamour, um diesem Vergleich wirklich standhalten zu können. Fast ausnahmslos alle Figuren in «Schönwald» sind auf ihre eigene Art abstossend. Weil sie heuchlerisch sind, weil sie lügen, kein Durchsetzungsvermögen haben oder stets den Weg des geringsten Widerstands gehen.

Absurde Abgründe

Getreu den US-amerikanischen Vorbildern lässt Oehmke die Erzählperspektive in seinem Roman häufig wechseln und fördert bei all seinen Figuren nach und nach abstruse Abgründe zutage.

Mann mittleren Alters mit schwarzem Haar und Bart, mit leerem Blick.
Legende: Autor Philipp Oehmke überträgt das Konzept der «Great American Novel» auf Deutschland. Weniger amerikanischer Traum, mehr Nazi-Vergangenheit. Piper / Karina Rozwadowska

Was – anders als bei US-Romanen – hier dazukommt, ist die alles überschattende und in Deutschland unumgängliche Frage nach NS-Täterschaft in der eigenen Familie.

Dass die Schönwalds es auch nach fast 600 Seiten Roman und nach unzähligen Volten im Privatleben der Figuren nicht schaffen wollen, diese Frage abschliessend aufzuklären, liest sich in der Gegenwart als gesellschaftliche Diagnose ziemlich bedrückend.

Buchhinweis

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«Schönwald»: Philipp Oehmke. Piper Verlag, 2023.

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