Ruth Schönwald gibt als Mutter den Ton an in ihrer Familie. Sie ist zwar (beinahe) Professorin für Literaturwissenschaften, doch trotzdem ist sie überzeugt, man müsse nicht jede Kleinigkeit bis ins Detail zu Boden diskutieren.
Familiäre Grundhaltung: Kleinreden
Über gewisse Dinge solle man lieber schweigen, denn das mache uns überhaupt erst zu zivilisierten Menschen. Probleme lieber kleinreden als ernstnehmen, Einwände so einfach wie möglich abtun: Das ist die Grundhaltung, die die ganze Familie Schönwald von Ruth gelernt hat.
Karolin, mit Anfang 40 das mittlere von drei Schönwald-Kindern, eröffnet zu Beginn des Romans eine queer-feministische Buchhandlung in Berlin. Es ist der Startschuss für ein tolles, weltoffenes Lebensprojekt, zu dem die ganze Familie anreist.
Ein heikler Vorwurf
Die Geschwister sind stolz, die Eltern zwar etwas befremdet, aber man ist ja tolerant. Doch bei der Eröffnung kommt es zum Eklat. Aktivistinnen und Aktivisten – und zwar ausgerechnet linke – verüben einen Farbanschlag auf den feministischen Buchladen. Der Vorwurf: Karolin Schönwald habe das Geschäft mit Geld aus dem Erbe ihres Grossvaters finanziert. Und der sei nachweislich ein alter Nazi gewesen.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Das als Möglichkeit anzuerkennen, bringt die Schönwalds in ihrem einstudierten Schweigen komplett aus dem Konzept. Und es droht, noch ganz andere verschwiegene Wahrheiten ans Licht kommen zu lassen. Zum Beispiel den seit Jahrzehnten unausgesprochenen Vorwurf von Ruth, dass sie ihre sichere Karriere als Professorin der Familie geopfert hat.
Verrückte Welt
Oder dass Chris, Karolins älterer Bruder, schon seit geraumer Zeit nicht mehr Literaturprofessor an der renommierten Columbia University in den USA ist, sondern nach einem #MeToo-Fall gefeuert wurde. Seitdem produziert er Podcasts für die Neue Rechte und betreibt Wahlkampf für Donald Trump.
Philipp Oehmke schreibt schon lange als Reporter für das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». Er hat seinen eng verwobenen Familienroman nach dem Vorbild der grossen US-amerikanischen Romane gestaltet.
Diese gehen häufig vom vermeintlich Kleinen aus: von einer Familie oder einem kleinen Provinzort. Von da aus ergründen sie dann das Innerste der Gesellschaft. Philipp Oehmke überträgt dieses Konzept nun auf Deutschland.
Heuchler und Lügner
Weil es kein deutsches Pendant zum «American Dream» gibt, fehlt natürlich ein gewisses Flair von Grösse und Glamour, um diesem Vergleich wirklich standhalten zu können. Fast ausnahmslos alle Figuren in «Schönwald» sind auf ihre eigene Art abstossend. Weil sie heuchlerisch sind, weil sie lügen, kein Durchsetzungsvermögen haben oder stets den Weg des geringsten Widerstands gehen.
Absurde Abgründe
Getreu den US-amerikanischen Vorbildern lässt Oehmke die Erzählperspektive in seinem Roman häufig wechseln und fördert bei all seinen Figuren nach und nach abstruse Abgründe zutage.
Was – anders als bei US-Romanen – hier dazukommt, ist die alles überschattende und in Deutschland unumgängliche Frage nach NS-Täterschaft in der eigenen Familie.
Dass die Schönwalds es auch nach fast 600 Seiten Roman und nach unzähligen Volten im Privatleben der Figuren nicht schaffen wollen, diese Frage abschliessend aufzuklären, liest sich in der Gegenwart als gesellschaftliche Diagnose ziemlich bedrückend.