Am Anfang waren kopflose Sexpuppen. Sie verführten Martina Clavadetscher zu kühnen Reflexionen über programmierte Künstlichkeit von Menschen und das Eigenleben von Robotern. Am Schluss entstand «Die Erfindung des Ungehorsams».
Es ist zweifellos das originellste Buch, das für den diesjährigen Schweizer Buchpreis nominiert war und hat sich zu Recht durchgesetzt, nachdem Clavadetscher bereits mit ihrem ersten Roman «Knochenlieder» auf der Shortlist stand.
Durchzogener Jahrgang
Sie hat auch gewonnen, weil die Konkurrenz recht überschaubar war und sich zudem noch schwächte, indem der bekannteste Kandidat Christian Kracht sich nach der Nominierung gleich wieder zurückzog. So blieben zwei Debütbücher von Thomas Duarte und Veronika Sutter übrig sowie ein sympathischer, aber etwas ausgefallener Roman von Michael Hugentobler.
Wie beim Wein handelt es sich also auch beim Buchpreis 2021 um einen durchzogenen Jahrgang. Alle Nominierten haben ihre Stärken, aber auch jedes Buch schwächelt zwischendurch. Unter den Halbgelungenen vermag Martina Clavadetscher noch am meisten zu glänzen.
Ein Buch, das man sich verdienen muss
Sie verschachtelt in ihrem Roman mehrere Geschichten. Da ist Iris in Manhattan, an deren Dinnerparty dann die Geschichte von Ling erzählt wird, die in einer Sexpuppenfabrik in China arbeitet, und dann befinden wir uns plötzlich im 19. Jahrhundert bei Ada Lovelace, die es wirklich gegeben hat, einer Pionierin der Programmiersprache.
Damit ist schon angedeutet, dass man sich diesen Roman verdienen muss. Man kommt leicht ausser Atem bei dem Herumschwirren durch Jahrhunderte und Kontinente und sehnt sich manchmal zurück nach der guten alten Einheit von Handlung, Ort und Zeit, die leider gründlich aus der Mode gekommen ist.
Renitente Roboter
Lässt man sich auf Martina Clavadetschers Erzählabenteuer ein, verwischen sich die Grenzen zwischen Programmiertem und Menschlichem. Im Roman haben die menschlichen Figuren oft etwas Künstliches.
In Ihrem Alltag dominieren Wiederholung und Uniformität. Den künstlich hergestellten und programmierten Sexpuppen traut man dagegen immer mehr Menschliches zu, selbst die Fähigkeit zu Ungehorsam, auf den der Titel des Romans anspielt.
Der Mann, eine traurige Maschine
Clavadetscher entwirft kein dystopisch-apokalyptisches Szenario einer Zukunft, in der Maschinen immer mehr die Weltherrschaft erringen und das Menschliche verdrängen. Im Gegenteil, sie kann sich befreiende Symbiosen von Mensch und Maschine vorstellen.
Insofern lässt sich ihr Roman sogar als Kassiber für einen neuen Cyber- oder Cyborg-Feminismus lesen, in dem Roboter und künstliche Intelligenz dazu beitragen, dass sich der Mensch und vor allem der Mann, diese himmeltraurige Maschine, emanzipiert oder einfach ersetzen lässt.