Das war schon letztes Mal so. Als Jonas Lüscher mit seiner Novelle «Frühling der Barbaren», einer Satire auf Wirtschaftskräfte in der Finanzkrise, zum ersten Mal auf sich aufmerksam machte, rieben sich manche die Augen und fragten, wie ein solch komplexes und unsinnliches Thema Stoff für Literatur sein kann.
Doch schon damals landete das Buch des Wahlmünchners mit Berner Wurzeln auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Wenn auch noch ohne ihn zu gewinnen.
Neoliberal aus Eitelkeit
Im zweiten Anlauf aber hat es nun geklappt. Jonas Lüscher gewinnt den Schweizer Buchpreis mit einem nicht minder komplexen und nicht minder ambitionierten Roman: «Kraft».
Ein Roman, der nichts weniger als die Kenntnis diverser Philosophen von Leibniz bis Odo Marquard voraussetzt, der aber auch ohne deren Kenntnis zu verstehen und zu geniessen ist. Denn in erster Linie schreibt Jonas Lüscher einen Roman über eine Figur aus Fleisch und Blut.
Diese Figur heisst Richard Kraft. Der brillante und eloquente Tübinger Rhetorikprofessor ist neoliberal nicht aus Überzeugung, sondern aus Eitelkeit. Seine diversen Partnerinnen sehen ihn eher als Schwätzer und Schwafler.
Ganz offenbar hat sich der Professor übernommen. Eine gescheiterte und eine gerade im Scheitern begriffene Ehe, dazu vier Kinder in Ausbildung und ein nicht abbezahltes Haus: Das bringt den bestverdienenden Professor ins Schwitzen.
Warum das Übel?
Darum beteiligt sich Kraft an einem Wettbewerb im Silicon Valley. Und damit sind wir bei der Philosophie. Denn die Aufgabe des Wettbewerbs lautet: wer die schlüssigste Antwort geben kann auf die Frage, warum alles, was ist, gut ist, und wie wir es dennoch verbessern können, der bekommt eine Million.
Damit knüpft Jonas Lüscher, selbst Philosoph und Absolvent der Hochschule für Philosophie in München, an die sogenannte Theodizee-Frage an, die der deutsche Philosoph, Mathematiker und frühe Aufklärer Gottfried Wilhelm Leibnitz einst gestellt hat.
Sie lautet: Warum gibt es das Übel in der Welt, wo es doch einen allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott gibt?
Grenzen der Machbarkeit
In seinem Roman «Kraft» treibt Jonas Lüscher diese Frage weiter. Er überträgt sie in die heutige Zeit und fragt nicht nur nach der Allmacht Gottes, sondern auch nach der Allmacht der Technik. Von der Theodizee zur Technodizee.
So erklärt sich auch die Situierung des Romans im Silicon Valley, dessen Machbarkeitswahn Jonas Lüscher, der selbst dort gelebt und gearbeitet hat, aus eigener Anschauung kennt.
So erklärt sich auch das Donald-Rumsfeld-Porträt in Krafts Studierstube, das im ersten Satz bereits erwähnt wird: Wir sind in einer Welt, in der die Fragestellungen des alten Europa keine Rolle mehr spielen. Es geht um die des neuen Amerikas. Und die finden sich hier im technikbesessenen Silicon Valley.
Altmodisches Abenteuer
Erfrischend dabei sind der satirische Ansatz und die erzählerische Distanz, die der Autor einnimmt. In fast altmodischer Art und Weise gibt es den auktorialen Erzähler, der in seiner gemächlichen Wir-Perspektive dafür sorgt, dass dieser Stoff in seiner ganzen Komplexität auch einem normalgebildeten Publikum zugänglich wird.
Dadurch wird die Lektüre des Romans zur Freude, zur Herausforderung und zum Abenteuer. Die Buchpreis-Jury, die den Roman als «sprachmächtiges Werk» bezeichnet und ihm erfrischende Boshaftigkeit und philosophischen Tiefgang gleichermassen attestiert, hat das erkannt – und macht ihn darum zu Recht zum Schweizer Roman des Jahres 2017.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 beste Bücher, 12.11.17, 11:00 Uhr