Die Literaturwelt habe das Potenzial von X (ehemals Twitter) verkannt, findet der gefeierte österreichische Autor Clemens J. Setz. Nun sei fast alles verloren. In seinem neusten Buch «Das All im eignen Fell» analysiert er eigene und fremde Twitterpoesie: kreativ und kurios.
SRF: Digitale Lyrik von der Online-Plattform Twitter in ein analoges Buch zu packen – ist das nicht ein wenig ironisch?
Clemens J. Setz: Doch – aber es hat sich herausgestellt, dass auf X, wie Twitter mittlerweile heisst, die ganze Szene verschwindet, wegen der ich hauptsächlich dort war. Die grössten Dichter und Dichterinnen waren plötzlich weg. Ihre Inhalte wurden sehr schnell und unwiederbringlich gelöscht. Und wegen der Umstrukturierung von X in eine politische – manche würden sogar sagen: radikalisierende – Plattform haben sich auch viele zurückgezogen.
Ich habe meine Zeit auf Twitter als Blütezeit einer genuin neuen, deutschsprachigen Dichtung erlebt.
Das Buch war nicht als solches geplant, aber es geht mir darum, so viel wie möglich von dieser Twitterpoesie zu konservieren. Wie sich zeigt, sind Websites im Internet eine sehr kurzlebige Sache, da ist alles auf Sand gebaut. Darum ist es besser, auf ein haltbares Medium wie Papier auszuweichen, das sich nicht so schnell selbst zerstört.
Was hat Ihnen Twitter als literarische Plattform bedeutet?
Ich habe meine Zeit auf Twitter als Blütezeit einer genuin neuen, deutschsprachigen Dichtung erlebt. Es war sehr merkwürdig, dass die klassischen Verwalter deutschsprachiger Kultur und Poesie das nie in irgendeiner Form wahrgenommen haben. Vielleicht war das ein zusätzlicher Grund für mich, das als Buch herauszugeben.
Und was macht diese Twitterpoesie für Sie aus? Was sind ihre Stilmerkmale?
Die totale Umarmung und Feier von falsch verwendetem Deutsch. Das ist so reich und präzis, dass es vollkommen neue poetische Effekte erzeugt. Beim Schreiben über Dinge, die sonst häufig verkitscht sind: die Liebe, die Natur, Angst vorm Alleinsein. Da kann man durch falsch verwendete Sprache plötzlich wieder frisch und ganz ohne sentimentalen Cringe-Faktor voll ins Schwarze treffen.
Das ruft dringend nach einem Beispiel.
Ein kurzer Satz des Users @LunaticAbsturz, den ich im Buch den «grössten Dichter» nenne: «Beste als ich Palme kaufte und dann mit Kran über Wald abwarf». Wenn man diesen Satz in «normalem» Deutsch sagen würde, wäre so viel verloren. Es liegt eine unglaubliche Dringlichkeit in diesem surreal-zarten Bild, das ergibt etwas Wunderbares, Poetisches.
Welche Rolle spielte dieser Reiz des absichtlich Falschen für Ihre eigene Twitterlyrik?
Es bringt einen auf neue Ideen. Ich habe versucht, diese leicht falsche Sprache mit klassischen Reimstrophen und strengen Formen zu verbinden – also eigentlich das Albernste, das man sich überhaupt für Twitter vorstellen kann. Reimen ist fast schon ein Tick von mir. Ich war auf Twitter aber weniger innovativ als die anderen, sondern bin einfach auf dieses Karussell aufgesprungen, das schon fuhr.
Das heutige Twitter namens «X» scheint für diese Art Literatur kein Ort mehr zu sein. Wie schauen Sie auf diese «Blütezeit der Twitterpoesie» zurück?
Ich ärgere mich, dass ich nicht mehr davon gespeichert und aufbehalten habe. Das Buch enthält meine sämtlichen gesammelten Beispiele. Das waren leider nur diejenigen, die ich für ausserordentlich grossartig gehalten habe. Ich glaube tatsächlich, dass es das Ende einer Ära ist und die Twitterpoesie wohl grösstenteils gestorben ist. Aber ich wünsche mir sehr, dass jemand das Gegenteil beweist und neue Orte aufzeigt, wo das weitergehen kann.
Das Gespräch führte Simon Leuthold.