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Zwangseinweisungen Der schändliche Umgang der Schweiz mit ihren Ärmsten

Noch bis in die 1970er-Jahre wurden mittellose Menschen in Armenhäuser zwangseingewiesen. Die Lebensbedingungen in diesen Anstalten waren prekär. Ein dunkles Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte.

«Die Armen waren damals nicht nur arm, weil sie arm waren. Vor allem waren sie arm, weil sie in diese behördliche Mühle geraten sind», sagt Schriftstellerin Katharina Geiser. Das ist ihr Resümee nach Monaten der Recherche.

Monate, in denen sich die Autorin mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz beschäftigt hat. Genauer: mit dem Usus, Menschen in Armenanstalten einzuweisen – gegen ihren Willen. Geisers Ururgrossmutter wurde einst Opfer dieses Systems.

Historisches Gebäude mit Veranda und kahlen Bäumen davor.
Legende: Im «Bürgerasyl»-Pfrundhaus Zürich waren die Umstände weniger drastisch. Schweizer Armenhäuser trugen damals auch die Bezeichnungen «Armenasyl», «Bürgerheime» oder «Spittel». ETH-Bibliothek Zürich Bildarchiv/Com_L28-0115-0001-0004

Katharina Geiser ist 69 Jahre alt. Ihre Ururgrossmutter Elise hat sie nie persönlich kennengelernt. Aber sie weiss inzwischen viel über sie: Elise Geiser wurde 1868 in Steffisburg geboren. Sie brachte drei Kinder zur Welt, zwei davon starben früh. Ausserdem hat sie vier Stiefkinder grossgezogen.

Das Leben – eine einzige Schufterei

Die meiste Zeit ihres Lebens hat Elise Geiser als Wäscherin gearbeitet. Sie kümmerte sich um Privat- und Kasernenwäsche. Eine einzige Schufterei. «Nebenbei» die Kinder, der Haushalt. Gegen Ende ihres Lebens litt Elise Geiser an Rheuma, an offenen Wunden, die nicht heilen wollten – und vor allem an Armut.

Mit Anfang 80 wurde sie in ein Armenhaus bei Thun zwangseingewiesen. Nach fünf Tagen dort starb sie. Über diese fünf letzten Tage im Armenhaus hat Katharina Geiser nun einen Roman geschrieben. Titel: «Die Wünsche gehören uns».

Frau mit dunkler Brille, Kopf zum Betrachtenden gedreht, lehnt an weisser Wand. Gelbe Jacke und petrolfarbener Schal
Legende: Katharina Geiser webt Schicksale ihrer Vorfahren in Romane ein: Ihre Ururgrossmutter Elise kommt auch schon in Geisers letztem Roman «Unter offenem Himmel» vor. Manuel Suter

Ausgehend vom Schicksal ihrer Ahnin wirft Geisers Roman ein Schlaglicht auf ein dunkles Kapitel Schweizer Sozialgeschichte: die sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Fürsorge und Zwang

Man sollte den Begriff einmal aufdröseln, um sich seine Widersprüchlichkeit vor Augen zu führen: «fürsorgerische Zwangsmassnahmen». Darin stecken «Fürsorge» und «Zwang».

Unter dem Label der «Fürsorge» hat der Staat Zwang ausgeübt. Menschen wurden ohne Gerichtsurteil «administrativ versorgt». Sie wurden beispielsweise in Arbeitsanstalten, Trinkerheilanstalten oder eben in Armenhäuser eingewiesen. Eine Praxis, die im 17. Jahrhundert begann, im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand hatte.

Menschen in Armenanstalten wurden als «Insassen» bezeichnet, als handele es sich um ein Gefängnis. Und tatsächlich ging mit einer Einweisung ins Armenhaus – je nach Kanton und Gemeinde in unterschiedlicher Ausprägung – auch eine Entrechtung einher.

Isolation statt Hilfe

«Die Insassen durften ein wenig spazieren, mehr aber auch nicht», hält der Zürcher Historiker Thomas Huonker fest, der zu Armenhäusern geforscht hat. «Frauen hatten ja ohnehin noch keines, aber den männlichen Armenhausbewohnern wurde meist das Stimmrecht entzogen. Persönliche Gegenstände hat man ihnen weggenommen. Die Menschen wurden entpersonalisiert, ihr Alltag war völlig fremdbestimmt.»

Vier ältere Frauen sitzen auf einer Veranda, eine von ihnen trinkt.
Legende: Der Fotoreporter Hans Staub erhielt um 1930 Einblick in das Zürcher Armenhaus und fotografierte die dort untergebrachten Frauen beim Stricken. Keystone/Fotostiftung Schweiz/Hans Staub

Ausserdem wurden Armengenössige, also unterstützungsbedürftige Personen, in ihren Heimatort gebracht – selbst wenn sie nie dort gelebt hatten. Oft kamen sie also in eine fremde Umgebung. An ihren Wohnort zurückzukehren, war ihnen verboten.

Mit diesen Zwangsmassnahmen sei es weniger darum gegangen, Armutsbetroffenen zu helfen, als darum, sie vom Rest der Gesellschaft zu isolieren, so Huonker. Armenhäuser hätten deshalb meist am Rande eines Ortes gestanden, nie mittendrin.

Historisches Gebäude mit Garten und Bäumen.
Legende: Aus dem Auge, aus dem Sinn: Wie viele andere Armenhäuser befand sich die Armenanstalt Sommerau am Rande der Gemeinde. Schweizerisches Sozialarchiv/F Fe-0002-052

Die Verpflegung: Kartoffeln, hartes Brot, Hafergrütze, verdorrtes Gemüse. Laut Huonker finde man in den Quellen «viele Klagen über die mangelhafte Kost der Insassen, die im Kontrast stand zur guten Verpflegung der Armenhausväter».

Wie Armenhäuser entstanden

Bis zur Entstehung der Armenhäuser habe es den sogenannten «Umgang» gegeben, erklärt Huonker. «Das funktionierte so, dass arme und obdachlose Menschen in einer Gemeinde reihum in die wohlhabenderen Häuser geschickt wurden. Dort kamen sie für zwei, drei Monate unter, bis sie ins nächste Haus geschickt wurden.»

Dieses System sei den Bewohnern, bei denen Menschen einquartiert wurden, natürlich lästig geworden. So sei es zur Gründung von Armenhäusern gekommen. Betrieben wurden sie zunächst von der Kirche, später von den Gemeinden und Bezirken. Armenhäuser trugen auch die Bezeichnungen «Armenasyl», «Bürgerheime» oder «Spittel».

Erste Altersrenten ab 1948

1948 trat die AHV in Kraft. Ein Wendepunkt in der Sozialgeschichte der Schweiz. In jenem Jahr wurden auch die ersten Altersrenten ausbezahlt. Aber sie waren niedrig. Für viele, darunter auch Katharina Geisers Ururgrossmutter, dürften sie nicht gereicht haben. Mit der Folge, dass es noch bis in die 1970er-Jahre hinein Armenhäuser gab.

1981 wurden die Gesetze zur administrativen Versorgung aufgehoben. Das markierte schliesslich das Ende der Zwangseinweisungen. «Bis dahin waren Tausende von Erwachsenen eingesperrt worden, ohne dass sie ein Delikt begangen hätten», hebt die Autorin Katharina Geiser im Nachwort ihres Romans hervor.

Grosse Forschungslücke

Anders als etwa die Verdingung – ein anderes dunkles Kapitel in der Geschichte der Schweiz – sei das Thema «Armenhäuser» bislang nur unzureichend erforscht, bemängelt der Historiker Huonker. In einzelnen Kantonen sei zwar jüngst viel Forschungsarbeit geleistet worden. «Aber eine systematische Aufarbeitung fehlt bislang. Wir wissen nicht einmal, wie viele Armenhäuser es schweizweit gegeben hat.»

Für den Kanton Aargau könne er aber ein Beispiel nennen: Im Jahr 1953 liessen sich dort 57 Armenhäuser zählen.

Überfülltes Armenhaus

1953 ist das Jahr, in dem Katharina Geisers Roman spielt – die fiktiv aufgearbeitete Geschichte ihrer Ururgrossmutter. Geiser hat das ehemalige Armenhaus ihrer Vorfahrin besucht. Es steht noch und dient heute als Wohnhaus. Geiser konnte sich die Enge, die damals darin geherrscht haben muss, bildhaft vorstellen.

Buchhinweis

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Katharina Geiser: «Die Wünsche gehören uns». 256 Seiten. Jung und Jung, 2025.

«Die Zustände im Armenhaus meiner Ururgrossmutter waren prekär», erzählt Geiser. «Es gab keine Privatsphäre, nur Sechs- und Achtbett-Zimmer. Das Haus war völlig überbelegt, die hygienischen Bedingungen miserabel, die medizinische Versorgung unzureichend. Es wundert mich nicht, dass meine Ururgrossmutter dort nicht lange überlebt hat.»

4 Fragen an Sozialanthropologin Andrea Abraham

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Person mit Brille vor Glaswand.
Legende: Andrea Abraham

Andrea Abraham ist Sozialanthropologin am Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Sie hat sich mit den Auswirkungen von Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auf nachfolgende Generationen befasst. Für eine Studie befragte sie die Nachkommen von fremdplatzierten Menschen.

SRF: Wie haben sich fürsorgerische Zwangsmassnahmen auf die Betroffenen ausgewirkt?

Andrea Abraham: Wir wissen inzwischen, dass im 20. Jahrhundert mehrere hunderttausend Menschen in der Schweiz auf Bauernhöfen verdingt, in Armenhäuser, Heime oder andere geschlossene Einrichtungen gebracht und so gesellschaftlich isoliert wurden. Viele von ihnen hat man von Anstalt zu Anstalt geschoben; sie haben unzählige Wechsel durchmachen müssen. Ein Grossteil der Betroffenen hat multiple Formen von Gewalt erlebt, körperliche wie seelische. Zudem litten sie an den Abwertungen, weil ihnen ständig gesagt wurde: «Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts.»

Für Ihre Studie haben Sie nun gefragt: Wie war es für die Kinder der Betroffenen, mit dermassen belasteten Eltern aufzuwachsen?

Wir konnten feststellen, dass viele Kinder unter der Fremdplatzierung der Eltern gelitten haben – oder es bis heute tun.

Wie äussert sich dieses Leiden?

Auf sehr vielfältige Weise. In den meisten Fällen spürten die Kinder eine Tabuisierung dessen, was die Eltern erlebt hatten. Bestimmte Orte wurden grundlos gemieden oder von manchen Dingen nur in Andeutungen gesprochen. Einige Kinder begannen deshalb, sich Gedanken zu machen oder sich in extremer Weise um die Eltern zu sorgen und zu kümmern. «Parentifizierung» nennt man das. Ausserdem gab es Probleme hinsichtlich Nähe und Distanz. Das heisst, manche Eltern waren nicht in der Lage, eine emotionale Nähe zu den eigenen Kindern aufzubauen. Das andere Extrem war eine symbiotische Nähe bis hin zu sexuellen Übergriffen. Die Nachkommen von Betroffenen berichteten ausserdem von Gewalterfahrungen, sei es durch die Eltern selbst oder durch das Umfeld, vor dem zu schützen die Eltern nicht in der Lage waren. Auch psychosomatische Folgen wie Einnässen kamen vor.

Lässt sich sagen, über wie viele Generationen sich solche Folgen noch weitertragen werden?

Das geht in den Bereich der Epigenetik. Dort wird untersucht, wie sich Traumata in den Genen festschreiben und vererben. Was ich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sagen kann, ist, dass Armut oft über viele Generationen hinweg bestehen bleibt, weil sie gleich eine Vielzahl sozialer Benachteiligungen mit sich bringt. Benachteiligungen hinsichtlich sozialer Teilhabe, hinsichtlich Gesundheit, Bildung und so weiter. Hinzukommen Vorurteile von aussen und das isolierende Gefühl von Scham. Armut funktioniert wie Treibsand. Es braucht unglaublich viel Gegenkraft, ihr zu entkommen.

Geiser sagt, dass ihr durch die Arbeit am Roman noch einmal bewusst geworden sei, wie schwer das Leben für Menschen war, die aus ärmeren Schichten stammten oder die, aus welchen Gründen auch immer, nicht den gängigen Normvorstellungen entsprachen.

Willkür der Behörden

«Ob alleinerziehende Mutter oder verarmte Witwe – diese Menschen waren der Willkür der Behörden ausgesetzt.» Man habe sie diskriminiert und entrechtet. Unentwegt wurde versucht, sie zu disziplinieren und durch das Wegsperren in eine Anstalt zu isolieren.

Aus der Armut herausgeführt haben die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – das hat Katharina Geiser recherchiert – jedenfalls keinen einzigen jener Menschen, die damals gemeinsam mit ihrer Ururgrossmutter in dem Armenhaus untergebracht waren.

Radio SRF 2, Kontext, 1.4.2025, 9:05 Uhr

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