Ist der ESC eine Traumfabrik des Musikbusiness? Ja, schaut man die 19-jährige Gymnasiastin Lena an. Wie sie mit mässigem Englisch und mässiger Intonation 2010 den ESC für Deutschland gewinnt und als Musikerin, Model und Marke in den nationalen Promihimmel katapultiert wird.
Ja, auch mit Blick auf die Sängerin Netta, die 2018 Israel mit Loopgerät und Hühnergackern zum ESC-Sieg verhalf. Sie verdiente ihre Brötchen einst als Hochzeitssängerin und sitzt jetzt als Superstar in israelischen Castingshow-Jurys. Das nennt man Karriere.
International gesehen waren aber sowohl «Satellite» von Lena, als auch «Toy» von Netta One-Hit-Wonder. Das Erfolgsversprechen, das wohl auf die meisten ESC-Siegerinnen und Sieger zutrifft, lautet: weltberühmt im eigenen Land.
ESC als Karriere-Sprungbrett
ESC-Erfolge inklusive Welttournee gibt es trotzdem: zum Beispiel die italienischen Glamrocker Måneskin. Sie gewannen den ESC 2021 und gehören heute mit 27 Millionen monatlichen Hörerinnen und Hörern auf Spotify zu den erfolgreichsten Rockbands der Welt.
Anders als bei vielen ESC-Gewinnern ist nicht nur ihr Siegersong «Zitti e buoni» explodiert, sondern auch ältere Stücke wurden nach oben gespült. Ihre Alben halten sich ebenfalls in den Charts, sogar in den USA.
Aus Siegern werden Verlierer, aus Verlierern werden Gewinner
Viele Gewinner-Märchen sind nur Kurzgeschichten: Niamh Kavanagh gewann den ESC 1993 für Irland. Dort wurde ihr Lied «In your eyes» zwar zur meistverkauften Single des Jahres, doch schon bald ging sie wieder zurück in ihren Job an der Supermarktkasse.
Andersrum geht Erfolg auch ohne ESC-Sieg, denn das Musikbusiness folgt eigenen Gesetzen. Die Armenierin Rosa Linn zum Beispiel landete beim ESC 2022 nur auf Platz 20. Aber ihr Song «Snap» ging auf Tiktok viral, wodurch er in 17 Ländern in die Charts kam.
Welterfolge sind rar, aber möglich
Dass der ESC so umfassende Weltkarrieren anstösst wie bei Céline Dion oder ABBA, kommt relativ selten vor. Doch selbst bei ihnen kam der Durchbruch nicht über Nacht. Mit dem Grand-Prix-Sieg landete ABBAs «Waterloo» zwar in sage und schreibe 50 Ländern in den Charts. Dem Live-Publikum aber blieb das schwedische Quartett noch eine ganze Weile fremd.
So fremd, dass ihr Schweiz-Konzert im Herbst nach dem Sieg abgesagt werden musste: zu wenig verkaufte Tickets. Die Abbamania begann erst ein Jahr später, mit dem Musikvideo zu «Mamma Mia».
Manchmal braucht’s noch Hollywood
Ähnlich war bei Céline Dion der ESC-Sieg für die Schweiz nicht der einzige Faktor, der sie zu einer der erfolgreichsten Sängerinnen ever machte: Auch nach Platz 1 in Dublin 1988 hatte sie vor allem in der französischsprachigen Welt Fans.
Mehr globale Superpower als der ESC hatte Disney: Dions Weltruhm war besiegelt, als sie 1991 den Titelsong von «Beauty and the Beast» sang. Céline Dion und ABBA waren bald aus der ESC-Welt herausgewachsen, ihr Sieg wurde zur Randbemerkung.
Auf den ESC reduziert
Anders bei Lordi: 2006 gewann die finnische Heavy-Metal-Band den ESC mit ihren markanten Monsterkostümen. Sie hält sich bis heute europaweit. Aber wie der Film «Monsterman» erzählt, wollte der Frontman Mr. Lordi vor allem eins: Respekt von der Metal-Community. Und da hilft ein ESC wenig.