Die massiven Vorwürfe gegen die Tanzakademie in Zürich werfen grosse Wellen. In der Westschweiz kam es im vergangenen Jahr zu ähnlichen Erschütterungen. Die Strafverfolgungsbehörden gingen gegen die Leitung zweier Tanzcompagnien in Sitten und in Genf vor. Beide Verfahren sind noch nicht abgeschlossen. Die öffentliche Hand setzte die finanzielle Unterstützung bis auf Weiteres aus.
Prestige-Ballett unter Druck
Auch ein Aushängeschild des Westschweizer Tanzes, das Béjart Ballett in Lausanne, blieb von Vorwürfen nicht verschont. Eine externe Untersuchung attestierte der Leitung des Béjart Balletts ein «impulsives, jähzorniges und beleidigendes Auftreten».
Im weltberühmten Ensemble wurden verschiedene Massnahmen getroffen und der Schutz der Tanztruppe verstärkt. Im Umkreis des Béjart Balletts musste auch die Schule Rudra Béjart den Betrieb einstellen.
In mehreren Fällen kamen die Vorwürfe nicht aus heiterem Himmel. Beim Béjart hatte es schon 2008 Schwierigkeiten gegeben. Doch in der Tanzszene wagten sich die wenigsten Tänzerinnen und Tänzer zu wehren. Auch, weil sie künstlerisch und finanziell von der Gunst der Choreografen und der Ensemble-Leitung abhängig sind.
Ein Aufbegehren ist auch ein Risiko, wie sich in Genf nach Bekanntwerden der Vorwürfe zeigte: Die betroffene Tanztruppe wurde aufgelöst.
Neue Anlaufstellen
Diese Häufung an Fällen erschütterte die Tanzszene in der französischsprachigen Schweiz in ihren Grundfesten. Sie führte aber auch zu einem Wandel: Die Mauer des Schweigens brach.
Die Strukturen wurden verbessert. Viele dieser Compagnien und Institutionen hatten zuvor keine Vertrauensperson, wie das Arbeitsrecht es eigentlich vorschreibt. Ausser dem Gang an die Öffentlichkeit gab es kaum Möglichkeiten, Missstände anzuprangern.
Seither können Kulturschaffende auf zwei Arten Hilfe holen. Einerseits gibt es bei der Westschweizer Bühnengewerkschaft eine Meldestelle, genau wie beim Deutschschweizer Pendant SzeneSchweiz.
Die Westschweizer Kulturschaffenden gingen aber noch weiter: Sie richteten eine externe Meldestelle ein, die vollständige Vertraulichkeit garantiert. Sie wird von einem externen Unternehmen, der «Clinique du travail», betrieben.
Nicht einmal die Bühnengewerkschaft hat Kenntnis vom Inhalt der Fälle. Das Modell soll auch in der Deutschschweiz Schule machen. Diskussionen dazu sind in Gang.
Keine Einzelfälle
In der Westschweiz sind seit dem Beginn der externen Meldestelle Ende des letzten Jahres ein Dutzend Fälle eingegangen. Manche der Fälle gehen auf die Beschwerden mehrerer Personen zurück. Zusammen mit den Meldungen bei der Gewerkschaft sind so über 15 Fälle signalisiert worden, wie Anne Papilloud sagt, die Generalsekretärin der Westschweizer Bühnengewerkschaft.
Als die Vorwürfe an die Oberfläche kamen, löste dies auch einen Sinneswandel aus. «Viele der Kulturschaffende sind sich heute bewusst, dass manche der Verhaltensweisen, die sie in ihrer Karriere erlebt haben, völlig unangemessen waren», sagt Anne Papilloud.
Schülerinnen sind schlecht geschützt
Papilloud erlebte in der Romandie auch einen Fall an einer Schule, allerdings einer privaten. Von der Westschweizer Hochschule für die Bühnenkünste sind keine Fälle wie in Zürich bekannt.
Nach Ansicht der Gewerkschaftssekretärin sind Ausbildungsorte besonders empfindlich. Denn Schüler seien noch keine Berufstätigen und riskieren im schlimmsten Fall ihr Diplom, wenn sie sich wehren. Hinzu kommt: Die Schülerinnen sind noch nicht durch das Arbeitsrecht geschützt.