In Wagners «Ring» gibt es drei Clans, die um die Macht ringen: der Götterclan, ein Menschenclan und die Nibelungen, der Zwergen-Clan. Eine gigantische Seifenoper, in der Götter, Riesen, Zwerge und Menschen sich gegenseitig lieben, misstrauen, betrügen, morden.
Wagner lockt das Publikum
Dieser Stoff samt Wagners Klangwelt lockt das Publikum in Scharen an: In Zürich sind die Vorstellungen weitgehend ausverkauft, in Bern und Basel ist die Zuschauerauslastung ebenfalls gut.
Liegt dies auch daran, dass ein kompletter «Ring» ein Medienereignis ist, während über «gewöhnliche» Opernpremieren kaum noch berichtet wird? Ja, meint Rainer Karlitschek, Co-Operndirektor bei Bühnen Bern, der für die «Ring»-Produktion in Bern mitverantwortlich ist: «Das Interesse der Medien an Wagners ‹Ring› ist grösser als an den restlichen Opern. Es zieht auch ein auswärtiges Publikum an, das unsere Spielstätte sonst nicht besuchen würde.»
Ende einer Weltordnung
Oder lässt sich das grosse Interesse am «Ring» durch den Stoff selbst erklären? Trifft Wagner mit seinem Götter- und Heldenepos einen Nerv der Zeit? Geht es darin um «das Ende einer bestimmten Weltordnung» und die Postapokalypse, wie Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen meint? Schliesslich gehen am Ende die Götter unter – ist es Zeit, dass auch einige unserer «Götter» untergehen?
An der Spitze des Götterclans im Ring steht nämlich Wotan, den Wagner als autoritären und skrupellosen Macho zeigt. Solche Machtfiguren stehen auch in Filmserien wie «Succession» im Zentrum. Und das, meint Elisabeth Bronfen, treffe einen Nerv der Zeit. «Ob in Polen, Ungarn, Amerika, Israel – irgendwie kommen diese alten Männer, die schon sehr lange an der Macht waren und dieses patriarchale Gehabe haben, aktuell wieder besonders an die Macht.»
Eine weitere Stärke von Wagners Opernzyklus besteht darin, dass der Stoff deutungsoffen ist. «Wir betonen in unserm ‹Ring› die Verletzungen, die die Clans und Figuren erlitten haben und die ganz individuell in Familien hineinwirken. Wir aktualisieren dies und erklären es anhand der Traumata des 20. Jahrhunderts, also der beiden Weltkriege», sagt Rainer Karlitschek.
Paradebeispiel für den «alten weissen Mann»
Andere wiederum verstehen Wagners «Ring» als Kapitalismuskritik, als psychologisches Drama, als Blockbuster-Stoff, als feministisches Plädoyer oder als politische Aufklärung. Das heisst, jede Epoche schafft sich ihren eigenen «Ring», immer wieder gibt es neue Deutungsansätze.
Gerade jetzt sei es en vogue, sich mit Fragen der Macht und mit Machtfiguren zu beschäftigen, beobachtet Benedikt von Peter, Intendant und Regisseur am Theater Basel. «Es gibt ja jetzt den berühmten «alten weissen Mann». Das Paradebeispiel für einen solchen ist Wotan. Er setzt seine Macht ein – aber so, dass es für den eigenen Clan nicht mehr produktiv ist», meint Benedikt von Peter weiter.
Schliesslich steckt auch ein utopisches Potenzial in Wagners Opus magnum. Denn so viel ist klar: Nachdem das komplizierte, durch Wotan verkörperte patriarchale System zusammengebrochen ist, schimmert am Ende doch noch ein Hoffnungsfunke, weil die Rheintöchter überleben. Mit ihnen kann etwas Neues beginnen, auch wenn wir noch nicht genau wissen, was. Das ist immerhin ein Trost in dieser krisengeschüttelten Zeit.