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1399 Franken. So viel hätte das teuerste Ticket für das Konzert von Lady Gaga am 11. Februar im Zürcher Hallenstadion gekostet, das sie jetzt wegen Krankheit abgesagt hat. Im Preis inbegriffen wäre ein Geschenk, ein Abendessen mit der Crew – und ein Selfie mit Frau Gaga persönlich gewesen. Zusammen mit fünf anderen Fans.
Natürlich gab es auch günstigere Tickets: Ein ganz normaler Konzertbesuch, ohne Extras, hätte mit 93 Franken zu Buche geschlagen. Wirklich günstig ist auch das nicht – der Preis liegt aber nah am schweizerischen Durchschnitt.
Oben wie unten: Stagnation
Tonträger werfen heute kaum noch Gewinn ab, Profit wird mit Konzerten gemacht. Dafür sind Schweizerinnen und Schweizer bereit, viel Geld auszugeben. Die teuren VIP-Tickets für Lady Gaga waren ausverkauft. Die Branche ist zufrieden: Der Umsatz der Konzertveranstalter ist nach Jahren des Wachstums auf hohem Niveau stagniert.
Das genaue Gegenteil ist bei der Plattenindustrie zu beobachten: Jahrelang sind die Einnahmen mit CDs, Schallplatten, Downloads und Streams zurückgegangen. Nun scheint der freie Fall gestoppt.
Lo & Leduc: Gratismusik von Hitparadenstürmern
«Tourneen sind das einzige, mit dem man noch Geld verdienen kann», sagt Luc Oggier. Sein Duo Lo & Leduc hat mit «Ingwer und Ewig» eines der erfolgreichsten Schweizer Alben des vergangenen Jahres abgeliefert. «Selbst bei uns, die wir uns wirklich glücklich schätzen können, decken sich bei einer CD im besten Fall die Kosten.»
Für ihre neuste Produktion haben sich Lo & Leduc nun für eine andere Art der Veröffentlichung entschieden: «Update 4.0» erschien vor wenigen Tagen. Das ganze Album gibt es kostenlos online . Schon ihre drei ersten Alben hatten Lo & Leduc gratis veröffentlicht, danach folgten zwei CD-Veröffentlichungen.
Aufmerksamkeit ist der neue Lohn
«Dass wir das damals gemacht haben, war ein ziemliches Novum», sagt Oggier. «Heute ist es für kleine Bands wohl der einzige Weg, Resonanz zu bekommen.» Ihr neues kostenloses Album sei ein Dankeschön für die Fans. Möglicherweise werden sie danach auch wieder CDs machen.
Besonders für junge, noch unbekannte Künstler stellt sich die Frage, ob man bei den minimalen Einkünften sein Album nicht gleich verschenken will. Einnahmen sind ohnehin kaum zu erwarten, und immerhin besteht so die Chance, Aufmerksamkeit zu erregen.
Dieser Strategie folgen nicht nur Schweizer: Auch grosse internationale Stars wie Radiohead oder U2 haben in der Vergangenheit ganze Alben kostenlos veröffentlicht.
Gebremster Fall
Seit dem Jahr 2000 gehen die Umsätze mit physischen Tonträgern – also mit CDs, Schallplatten und Musikkassetten – konstant zurück. Dafür wächst seit 2005 der Umsatz mit digitaler Musik: Mit Downloads und zuletzt mit Streamingdiensten wie Spotify und Apple Music wurden neue Einnahmequellen erschlossen.
Für das vergangene Jahr liegen noch keine Zahlen vor. Es ist aber davon auszugehen, dass sich der Trend des Vorjahres fortsetzt, sagt Lorenz Haas, Geschäftsführer des Schweizer Plattenindustrieverbandes IFPI: «Die CD ist weiterhin deutlich rückläufig, Streaming wird weiter zulegen.»
Wie im Vorjahr erwartet Haas auch für 2017 insgesamt wieder ein kleines Wachstum. Treiber dieses Wachstums ist der digitale Markt. In diesem Segment gab es 2012 einen Umbruch: Der Umsatz mit Downloads geht seither zurück, Streaming legt stark zu.
Zu Beginn waren Musiker wenig begeistert von Streamingdiensten wie Spotify und Apple Music. Kritisiert wurden die tiefen Beträge, die an Plattenfirmen und Musiker ausbezahlt wurden. Dazu gibt es unterschiedliche Zahlen, der Ertrag pro gestreamten Song liegt aber wohl unter 0.01 Rappen .
Ärger wegen Youtube
Mit den Streaminganbietern scheint sich die Industrie inzwischen abgefunden zu haben. Heute stört man sich viel mehr an Plattformen wie Youtube. Die Videoplattform ist zu einem wichtigen Kanal für Musikkonsumenten geworden. Plattenfirmen und Künstler sind der Ansicht, dass Youtube ihnen zu wenig ausbezahlt und haben der Plattform den Kampf angesagt.
Die entspanntere Haltung gegenüber Streamingdiensten hat indes nicht nur mit wachsenden Umsätzen zu tun, sondern auch damit, dass der Marktführer Spotify einen Schritt auf die Schweizer Labels zu gemacht hat.
Ein Berliner für die Schweiz
Seit vergangenem August ist bei der Berliner Niederlassung von Spotify ein Redaktor angestellt, der Playlists für die Schweiz zusammenstellt. Schweizer Labels können ihm ihre neuen Titel vorspielen, die dann möglicherweise in den prominent platzierten Playlists auftauchen.
Solche Playlists haben viel Einfluss darauf, was die Nutzer auf Streamingplattformen hören. Wer Teil einer wichtigen Playlist ist, erreicht mehr Hörer. Dass Schweizer Musiker zuvor darin nicht vorkamen, sorgte in der Branche für Missmut.
Veronica Fusaro: Konzerte dank Gratis-EP
Nun gibt es auch einige Playlists, die ausschliesslich Musik von Schweizer Künstlern enthalten. Eine von ihnen ist Veronica Fusaro. Die junge Popmusikerin aus Thun veröffentlicht dieser Tage ihre zweite EP. Ihre Songs erscheinen auch auf Spotify und tauchten in den Schweizer Playlists auf.
«Aufnahmen sind für mich nicht deshalb wichtig, weil ich mit Streams viel Geld verdiene» sagt Fusaro. «Entscheidender ist, dass ich Material habe, das ich Veranstaltern zeigen kann.» Demnächst geht Fusaro auf Tournee durch die Schweiz.
Ihre digitalen EPs und Singles helfen der Newcomerin auch dabei, Zuschauer für diese Konzerte zu gewinnen. Ihre erste EP «Lost in Thought» hat Fusaro deshalb ebenfalls kostenlos angeboten – so wie Lo & Leduc. Diese Aufnahmen kann sie dann auch an Konzerten am Merchandising-Stand auf CD verkaufen.
Züri West: Vinyl statt Streams
Andere Schweizer Künstler bringen ihre Musik weiterhin über die klassischen Vertriebswege an den Mann. Züri West zum Beispiel: Die Berner Rockband hat das erfolgreichste Schweizer Album des letzten Jahres veröffentlicht: «Love» wurde mit Platin ausgezeichnet, für 20'000 verkaufte Einheiten.
Bei Spotify sucht man die Musik von Züri West allerdings vergeblich, die Band hat sich bewusst gegen eine Veröffentlichung entschieden. Ein wichtiger Grund dafür sind die geringen Einnahmen: «Was da zurückkommt, ist eher bescheiden», sagt Stefan Mischler, der Manager von Züri West.
Bei Apple Music ist die Musik von Züri West neuerdings zu finden. Ein «Versuchsballon», wie Mischler sagt. Mit Downloads ist Züri West bei Apple bereits präsent, dazu seien die Streams eine Ergänzung. Es könne auch sein, dass man künftig die Musik auch auf Spotify anbiete.
Liebe für und auf Vinyl
Vorläufig ist bei Züri West eine physische Publikation noch möglich: Es gebe derzeit ja noch Leute, die Alben kaufen, sagt Mischler. Statt auf Spotify gibt’s «Love» deshalb auf CD – und auf Vinyl. Die Produktion einer LP sei zwar aufwändig und rechne sich kaum – aber es «fägt» eben, sagt Mischler: «Eine Schallplatte ist ein schönes Produkt.»
Nicht nur Züri West schätzen Vinyl. Schon seit ein paar Jahren besteht neben dem Streaming ein zweiter Wachstumsmarkt: Die Vinyl-Platte.
Death by Chocolate: Amateure auf Profi-Niveau
Die Bieler Rockband Death by Chocolate hat vergangenes Jahr ebenfalls ein neues Album veröffentlicht, auch auf Vinyl. «Ich liebe dieses Format», sagt Sänger und Gitarrist Mathias Schenk. Eine Albumproduktion sei aber finanziell nicht leicht zu stemmen.
Haupteinnahmequelle seien Konzerte: «Da holen wir das Geld wieder rein, das wir für die Albumproduktion ausgegeben haben.» Death by Chocolate sind eine etablierte Liveband. Die Band gibt es seit 15 Jahren, in dieser Zeit haben sie unzählige Konzerte gespielt. In der Schweiz, aber auch in ganz Europa und den USA.
Heute haben Death by Chocolate viele Gelegenheiten, aufzutreten. «Wir können heute viel live spielen. Aber es hat lange gedauert, bis wir an diesem Punkt angekommen sind», sagt Schenk. Dennoch haben er und seine Bandkollegen noch andere Jobs. Von der Musik leben können sie nicht.
Von Kuchenstücken und Brösmeli
Insgesamt verzeichnen die Konzertveranstalter zufriedenstellende Umsätze: «Die Zahlen unserer Mitglieder sind sehr gut», sagt Stefan Breitenmoser, Geschäftsführer des Verbandes der professionellen Schweizer Konzert-, Show- und Festivalveranstalter SMPA.
Sorgen bereitet Breitenmoser einzig die Auslastung der Veranstaltungen: «Sie nimmt ab – das heisst, dass eher zu viele Tickets auf den Markt kommen.» Der Kuchen werde nicht mehr grösser, sagt Breitenmoser. Und vor allem verteile er sich auf immer mehr Veranstaltungen.
Auch wegen der hohen Ticketpreise würden die Zuschauer immer stärker auswählen, welche Veranstaltungen sie besuchen, sagt Breitenmoser: «Wenn ich für ein Konzert im Letzigrund 150 Franken ausgebe, reicht es dann vielleicht nicht mehr, um im gleichen Monat auch noch ein Konzert im Kaufleuten oder im Moods zu besuchen.» Das sei noch vor fünf Jahren anders gewesen.
Ein Schweizer auf der Weltbühne
Diese Tendenz betreffe nicht nur die «kleinen», sondern auch die internationalen Stars: Auch Konzerte in grossen Hallen seien immer seltener ausverkauft. In dieser Grössenordnung sind nur ganz wenige Schweizer unterwegs.
DJ Bobo zum Beispiel, für dessen Stadionkonzerte 2019 bereits Tickets im Verkauf sind. Im Vergleich zu Lady Gaga muten die «Frühbucher»-Angebote äusserst preiswert an: Stehplätze gibt’s für 59 Franken, das VIP-Ticket kostet 199 Franken.
2 Konzerte – oder 30
Mit solchen Stadiontouren ist DJ Bobo in der Schweiz eine Ausnahmeerscheinung. Ebenso wie Gölä, der anstelle von ausgedehnten Tourneen meist einzelne grosse Konzerte spielt. 2018 tritt er nur zweimal auf, im Zürcher Hallenstadion. Ein Stehplatz kostet 85.65 Franken, eines der Konzerte ist bereits ausverkauft.
Der Normalfall sind aber auch bei Schweizer Künstlern ausgedehnte Tourneen. Etwa 30 Shows haben Lo & Leduc 2017 gespielt. Endlos ausbauen kann man solche Touren aber nicht – gerade als Mundartkünstler. «Nur schon geografisch stösst man da an Grenzen», sagt Luc Oggier: «Wenn ich eine halbe Stunde Richtung Westen fahre, kennen sie da keinen einzigen unserer Songs.»
Es gehe aber auch nicht darum, möglichst viele oder möglichst grosse Konzerte zu spielen, sagt Oggier. Gerne spiele er mit Lo & Leduc auch mal an einem kleineren Ort und nehme dafür ein Verlustgeschäft in Kauf.
Quer durch die Schweiz
Dass man im begrenzten Raum der Deutschschweiz viele Konzerte spielen kann, zeigen auch Züri West. 56 Konzerte haben sie letztes Jahr gespielt.
«Wir wollen viel spielen. Wir gehen gerne zu den Leuten – egal ob im Emmental, im Oberaargau oder in Graubünden», sagt Manager Stefan Mischler.
Die Grösse der aktuellen Tournee sei mit früheren vergleichbar, sagt Mischler. Veränderungen spürt er aber doch: «Früher waren Konzerte meistens nach einer Woche ausverkauft. Heute dauert es oft fünf oder sechs Wochen.» Dieser Trend betreffe nicht nur Züri West. Dass Ticketverkäufe länger dauern, stellten auch die Veranstalter fest.
Mathias Schenk von Death by Chocolate stellt in den letzten Jahren eine weitere Veränderung fest: «Was ich heute öfter beobachte, sind sogenannte ‹Door Split Deals›», sagt Schenk. Das heisst: Die Band bekommt keine oder nur eine geringe Fixgage, wird dafür an den Ticketverkäufen beteiligt. Damit überträgt der Veranstalter das Risiko an die Band.
«Da muss man sich fragen, wo die finanzielle Schmerzgrenze liegt», sagt Schenk. Aus finanzieller Sicht lohnt sich aber ohnehin vieles nicht, was er mit seiner Band macht: «Wenn wir wegen dem finanziellen Lohn Musik machen würden, hätten wir alle längst aufgehört.»
Der Lohn für den harten Job
Ob es für Musiker heute schwieriger ist, über die Runden zu kommen als noch vor 20 Jahren, ist schwierig zu sagen. Auch deshalb, weil Musiker schon immer ein harter Job war, der viel Leidensfähigkeit verlangt.
Viele Musiker sehen den Lohn für den Job eben nicht nur im Geld. «Wenn ich Musik mache, mache ich das, was ich am liebsten mache», sagt Musikerin Veronica Fusaro. «Und irgendwie funktioniert's.»
Es gibt auch Entwicklungen, die positiv sind für Schweizer Künstler. Hierzulande gebe es viele Leute, die sich für Musik interessieren und an Konzerte kommen, sagt Fusaro. Dass das Interesse an Schweizer Künstlern in den letzten Jahren gestiegen ist, bestätigen sowohl Vertreter der Tonträger- als auch der Konzertbranche.
Kampf um Aufmerksamkeit
Die Digitalisierung hat es zudem einfacher gemacht, die eigene Musik für ein grosses Publikum zugänglich zu machen, sagt Lorenz Haas vom Plattenindustrieverband IFPI – und relativiert sogleich: «Weil es für alle einfach geworden ist, ist es auch wieder für niemanden einfacher.» Weil es so viel Musik gebe, sei der Kampf um Aufmerksamkeit heute so hart wie nie zuvor.
Von dieser Entwicklung profitieren derzeit vor allem die einen: Die Konsumenten. Es gibt heute viel und vielseitige Schweizer Musik zu hören – auf Tonträgern und an Live-Konzerten. Ob sich all diese Musik langfristig finanzieren lässt, bleibt aber unklar.
Auch wenn die stagnierenden Umsatzzahlen den Eindruck erwecken, der Markt habe sich eingependelt: Die Musikindustrie ist längst nicht am Ende ihrer Entwicklung angekommen. Die entscheidende Frage bleibt: Was ist Musik wert? Der Bruchteil eines Rappens für das Streamen eines Songs? 1399 Franken für ein Popkonzert und ein Selfie?