Eines Morgens, im Jahr 2003, wird Michelle Hug wach und kann keine Textnachrichten mehr lesen. Worte kommen ihr nicht in den Sinn. Panik. Sie ist 18 und in der Ausbildung, wohnt zu Hause.
Sie geht zur Mutter, die versteht sie nicht. Sie habe «Chinesisches» gesprochen, wird ihre Mutter später sagen. Eine Neurologin diagnostiziert Migräne.
Die Hiobsbotschaft
Drei Monate später ist das Gefühl in der linken Hand weg. Michelle Hugs Herz ist zu gross und pumpt nicht richtig, Gerinnsel wandern ins Gehirn und verursachen Vorstufen von Hirnschlägen.
Die Familie wird abgeklärt: Eine Schwester hat dasselbe vergrösserte Herz, eine andere ist gesund. «Angeboren», heisst es.
Es geht rapide bergab
Michelle Hug wird nun medikamentös behandelt. Damit kann man nichts verbessern, nur stabilisieren. 2010, mit 25 Jahren, heiratet sie. Sie möchte Kinder. Abklärungen im Spital, eine Woche lang, Velofahren mit 10-Kilo-Rucksack.
Die Tests verlaufen gut. Nur: Ihre Medikamente würden schwere Missbildungen beim Kind verursachen. Die Ärzte stellen die Medikamente um. «Daraufhin ging es rapide bergab, nur durch die Umstellung. Ich war noch nicht mal schwanger.»
Sie wird «urgent» gelistet – dringend
Nach zwei Monaten ist sie aufgebläht von Wasser, erbricht mehrmals täglich, isst wenig, kriegt schwer Luft. Die Ärzte stellen wieder auf die alten Medikamente um. Der aufgeschwemmte Körper nimmt diese aber nicht mehr ausreichend auf. Michelle Hug wird nach Zürich verlegt. «Wir müssen transplantieren», sagt der dortige Arzt.
«Ich hatte nie gedacht, dass Transplantation jemals ein Thema sein könnte. Der Kinderwunsch war nie so gross, dass ich es um jeden Preis gemacht hätte», sagt sie. Michelle Hug wird «urgent» gelistet, dringend. «Ich hätte jeden Tag sterben können.»
Das ewige Warten
Julia Rehsmann, Sozialanthropologin an der Fachhochschule und Universität Bern, hat ihre Dissertation über Transplantationen geschrieben. Sie unterscheidet zwei Organgruppen, deren Transplantation radikal unterschiedliche Konsequenzen haben: Bei einer Niere gehe es «um Lebensqualität, um die Frage: Dialyse, oder nicht? Beim Herz und der Leber geht es um die Frage: Lebe ich Weihnachten noch?»
Wenn der existenzielle Druck derart hoch ist, werde das Warten unerträglich, sagt Rehsmann, auch für die Angehörigen.
Als Michelle Hug vor zehn Jahren auf ein Herz wartet, bedeutet «normal» gelistet ein bis anderthalb Jahre Warten. «Urgent» gelistet heisst: im Schnitt sechs Wochen. Tage kommen ihr vor wie Jahre.
Der Rhythmus der Intensivstation
Wird man wie Michelle Hug «urgent» gelistet, überspringt man alle, denen es besser geht, auch wenn die schon länger warten. Nur: Man bleibt die ganze Zeit auf der Intensivstation. Wenn sich der Zustand verbessert und man zurück auf eine Normalstation geht, verliert man den Status «urgent».
Das Leben auf der Intensivstation hat spezielle Bedingungen. «Da ist es nie dunkel, man verliert den Rhythmus. Man kann nur einen Vorhang ziehen. Wenn man auf die Toilette muss, bekommt man einen Stuhl mit Topf und muss da sein Geschäft erledigen. Daneben tippt einer am PC», erinnert sich Michelle Hug.
Hoffnung bleibt
Angst, dass sie sterben könnte, hat sie keine. «‹Dann bin ich halt weg›, habe ich mir gesagt. Ich machte mir mehr Sorgen um meinen Mann, meine Familie. Ich verdrängte den Gedanken, dass das Herz nicht rechtzeitig kommt.»
Julia Rehsmann hat das in ihrer Forschungsarbeit wiederholt angetroffen: «Der Mensch ist ein wunderbar hoffnungsvolles Wesen. Wir schieben Worst-Case-Szenarien gerne weg, weil wir mit permanenter Angst nicht leben könnten.»
«Diese Langeweile»
Die Körperpflege dehnt Michelle Hug auf zwei Stunden aus, damit sie etwas zu tun hat. Sie strickt. Und sie wird gereizt, auch zur Pflege. «Diese Langeweile. Die anderen können nach Hause, ich liege nur im Bett.» Weiterhin ist sie aufgeschwemmt, übergibt sich. Mehrmals pro Tag.
Zu Untersuchungen wird sie mit einem Wägelchen chauffiert und hat immer eine Nierenschale dabei. «Erbrechen in aller Öffentlichkeit, ist kein angenehmer Zustand.» Michelle Hug wartet weiter.
Existenzielle Fragen
Julia Rehsmann weiss, was das Warten mit Menschen macht: «Das wird per se als unbequemer Zustand empfunden. Warten auf der Post, den Bus, auf Menschen, die zu spät kommen.»
Unter den besonderen Umständen vor einer Transplantation kämen existenzielle Fragen dazu: «Was heisst es, das Organ einer anderen Person in sich zu tragen? Funktioniert dann mein ganzer Körper anders? Wie verändern Medikamente meinen Geschmackssinn, meine Libido, meine Stimmung?» Dieses Warten, so zermürbend es sein mag, sei wichtig, um sich genau diesen Fragen zu stellen, sagt Rehsmann.
Der Motor wird gewechselt
Wer bin ich? Werde ich nach der OP eine andere sein? Manche Patientinnen und Patienten fragen sich auch: Habe ich nach der Transplantation neue kulinarische Präferenzen, weil die Person, die gespendet hat, etwas Bestimmtes mochte?
Wissenschaftlich haltbar seien solche Fragen nicht, sagt Rehsmann, aber sie gehören zur Realität. «Eine Transplantation ist ein drastischer Eingriff, ein Schritt ins krass Unbekannte.» Diese Identitätsfragen kämen aber nicht bei allen. Manche versuchten, das eher mechanistisch zu sehen: «Bei mir wird der Motor gewechselt.»
Psychologische Begleitung
Michelle Hugs Mann ist damals in der Ausbildung im Universitätsspital Zürich. Er kommt jeden Tag, lernt an ihrem Bett. Eine Psychologin betreut die Patientin. Ihr Mann hat hingegen keine Betreuung. Heute, zehn Jahre später, möchte er kaum darüber sprechen. «Seine Angst gehe auch mit Therapien nicht weg», sage er zu ihr. Einmal habe er sie fast verloren, das sitze zu tief.
Rehsmann sagt, eine Transplantation sei ein hochkomplexer Vorgang, wo zwei Körper quasi zusammenkommen. Das sei vielschichtig für alle, für Spender, Empfänger und die Angehörigen. Eine psychologische Begleitung sei schwer verzichtbar. «Eine Transplantation ist weit mehr als ein rein chirurgischer Vorgang».
Bereit für die Operation?
Der 31. Januar 2012. Um halb elf, kommt einer rein und sagt: «Frau Hug, sind Sie bereit?» Sie sagt: «Ich schon lange. Und ihr?» Glücksgefühle. «Ich habe alle angerufen, die hier waren. Mittendrin denke ich: Was, wenn ich nicht mehr wach werde? Ist das jetzt der letzte Satz, der letzte Blick? Wie lange wird es gehen, bis es mir nach der Operation wieder gut geht? Und wie wird das sein?»
Abends um sieben geht es los. Im Vorbereitungsraum ist sie «schon weg», spricht noch, hat hinterher aber keine Erinnerung. Die Operation dauert vier Stunden, ein Tag künstliches Koma, dann wird sie geweckt.
Birchermüsli und 35 Tabletten pro Tag, Schmerzen, «der Brustkorb wird ja aufgesägt». Nach drei Tagen: Normalstation, Physio, Hometrainer, Treppensteigen, Reha. «Da waren aber nur alte Leute. Da habe ich einen Koller gekriegt. Ich wollte nur noch heim. Ich habe versprochen, alles zu Hause zu machen.»
Das fremde Herz
Manchen falle es schwerer als anderen. Aber viele, mit denen Rehsmann gesprochen hat, sagen sich: «Die Spenderperson stirbt, da ist immer ein dramatischer Verlust. Aber es macht einen Riesenunterschied, ob man sagt, die Person musste sterben, damit ich ein Organ bekomme – oder ob man sagt, die Person ist gestorben und ich habe ein Organ bekommen.»
Diesen feinen, aber fundamentalen Unterschied zu erkennen und zu verinnerlichen, sei für Personen, die ein Organ empfangen, sicher hilfreich. «Damit kann man dann leben», sagt Rehsmann.
Schutzengel im Haus
Heute, 37-jährig, geht es Michelle Hug besser als mit 18. Sie muss zwar immer noch Tabletten nehmen, aber keine 35 mehr, sondern zwei morgens, zwei abends.
Desinfiziert habe sie sich schon vor Corona, ängstlich ist sie wegen der Pandemie nicht. «Morgen gehen wir brunchen», sagt sie. Sie habe Schutzengel im Haus. «Ich glaube zwar nicht an Gott, aber dass da etwas ist, glaube ich schon.» Kinder möchte Michelle Hug bewusst keine mehr, obwohl es heute möglich wäre – es fehle ihr nichts, sagt sie.
Das Leben feiern
Michelle Hug wohnt im Luzerner Seetal und arbeitet als Assistenz Chefarzt Medizin und Teamleitung im Spital Muri. Sie nimmt an Wettkämpfen für Transplantierte teil, an den Europameisterschaften holte sie die Goldmedaille. «Das ist ein super Anlass. Da sind nur Transplantierte, ein ganzer Platz voll. Alle wissen: Wir wären nicht mehr da, wenn es diese Medizin nicht gäbe. Am Schluss stehen wir im Kreis, halten uns und abends gibt es Party. Wir feiern das Leben.»
Bei vielen Gesunden, mit denen sie Kontakt habe, bestehe die Annahme, durch eine Transplantation verlängere man ein krankes Leben. «Die müssen so viele Medikamente nehmen, das wird nicht mehr gut», heisst es häufig. Michelle Hug verneint: «Das stimmt nicht. Mir geht es besser als vorher. Ich mache alles.»
Die andere Geschichte
Ihre Geschichte erscheint heute als Glücksfall. Sie bereue es nicht, damals die Medikamente umgestellt zu haben, um schwanger zu werden. Erst dieser Wechsel löste die dramatische Verschlechterung ihres Zustands aus. Denn ein neues Herz hätte sie früher oder später so oder so gebraucht. Das habe der Verlauf bei ihrer Schwester gezeigt.
«Meine kleine Schwester hat zwei Jahre nach mir ebenfalls ein neues Herz bekommen», sagt Michelle Hug. Sie lebt jahrelang dem neuen Herzen. Dann stösst es ihr Körper ab. Die Ärzte haben alles versucht. Doch vor kurzem ist die Schwester gestorben. Mit 31 Jahren. «Wir haben beides in der Familie erlebt, den guten Verlauf und den anderen», sagt Michelle Hug.
Eine Herztransplantation ist eine Grenzsituation. Leben und Tod sind sich ganz nah. In ihr bündeln sich politische, gesellschaftliche, medizinische, psychologische Fragen und die des Menschseins. Schicksale, dramatisch allesamt.