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Stimmrechtsalter 16 oder 18? – «Minderjährigkeit ist eine willkürliche Grenze»

Sind 16-Jährige in der Lage, politische Entscheidungen zu treffen? Für die Entwicklungspsychologie jedenfalls ist der Fall klar: Ob 16 oder 18 – die Fähigkeit, Probleme zu lösen und Diskussionen zu führen sei gleich ausgeprägt, meint Expertin Claudia Roebers.

Claudia Roebers

Entwicklungspsychologin

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Claudia Roebers ist Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Bern. Zu ihren Forschungsgebieten gehört die kognitive Entwicklung, mit einem Schwerpunkt auf der Entwicklung der Selbstregulation bei Kindern.

SRF: Sind Jugendliche mit 16 Jahren entwicklungspsychologisch gesehen in der Lage, politische Entscheidungen zu treffen?

Claudia Roebers: Aus unserer Sicht auf jeden Fall. Die kognitive Entwicklung ist in den ersten Lebensjahren rasant. Im Alter von 6 bis 12 Jahren fängt sie dann langsam an abzuflachen. Wir gehen daher davon aus, dass die Unterschiede ab dem 14. Altersjahr bis Mitte 20 nur noch sehr gering ausfallen.

Das heisst, dass zwei Jahre Unterschied von 16 zu 18 Jahren kognitiv gesehen nichts ausmachen?

Da gibt es eigentlich kaum einen Unterschied: Das Arbeitsgedächtnis ist voll entwickelt, Problemlösungskompetenzen sind da und 16-Jährige sind genauso diskussionsfähig wie 18- oder 20-Jährige. Das Interesse ist in beiden Altersjahren da. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu denken, ist da.

Junge Menschen demonstrieren mit Plakaten in den Händen.
Legende: Mit klarer Meinung und begründeten Standpunkten: Gerade an Klimademonstrationen finden auch viele unter 18-Jährige zu einer politischen Stimme (Bild vom März 2019 in Lausanne). Keystone / JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Wie lässt sich «Reife» überhaupt definieren? Ab welchem Alter ist man reif?

Wir sprechen heute gar nicht mehr von Reife. Wir haben einen Organismus, der hat ein Programm – das ist genetisch vorgegeben. Diese biologischen Reifungsprozesse sind aber ohne eine Umwelt gar nicht möglich.

Jugendliche im Alter von 16 bis 18 können Standpunkte formulieren und auch begründen.

Deshalb spricht man heute nicht mehr nur von Reifung, sondern betrachtet die kognitive Entwicklung als das Ergebnis des Zusammenspiels von Hirnreifung und Anforderungen der Umwelt.

16 ist bekanntlich ein delikates Alter: Man wird erwachsen, der Körper und die Wahrnehmung verändern sich stark. Ist man in diesem Alter nicht zu leicht beeinflussbar?

Natürlich sind junge Menschen beeinflussbar – aber ob wir 20, 40 oder 80 sind: Wir sind alle beeinflussbar. Das ist bei jungen Menschen genau gleich. Zwischen 16- und 18-Jährigen gibt es diesbezüglich keinen substanziellen Unterschied.

Jugendliche im Alter von 16 bis 18 haben klare Interessen. Sie können ganz klar ihre Meinung zu Dingen äussern, sie können Standpunkte formulieren und auch begründen. Da gibt es aus entwicklungspsychologischer Sicht keine Zweifel, was das Wahlrecht betrifft.

Wie schätzen Sie persönlich die Jugendlichen in der Schweiz ein – «entwicklungstechnisch»?

Meine Einschätzung ist, dass die Jugendlichen in der Schweiz auf extrem hohem Niveau leben und auch ihre eigene Entwicklung vorantreiben können.

Dass 16-Jährige minderjährig sind, wurde irgendwann im Gesetz festgelegt. Das ist eine willkürliche Grenze.

Kaum irgendwo auf der Welt sind Kinder und Jugendliche so gesund und haben so viele Möglichkeiten wie in der Schweiz: Sie haben hier Zugang zu vielen Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen und können Freizeit- und Entfaltungsmöglichkeiten nutzen.

Gibt es einen Unterschied in der Entwicklung zwischen Jungen und Mädchen? Man hört häufig, dass Mädchen früher «reif» werden. Stimmt das?

Mädchen treten etwas früher in den pubertären Wachstumsschub. Und ja, sie haben einen kleinen Altersvorsprung in der biologischen Hirnreifung. Aber wenn wir anschauen, wie Jungen oder Mädchen urteilen, an die Zukunft denken oder an Problemsituationen herangehen, dann sehen wir, dass sie sich nicht bedeutsam voneinander unterscheiden.

Weshalb sollten wir uns als Gesellschaft bei politischen Anliegen auf das Urteilsvermögen Minderjähriger verlassen können?

Dass sie minderjährig sind, wurde irgendwann mal im Gesetz festgelegt. Das ist eigentlich eine willkürliche Grenze.

Für mich sind folgende Fragen interessanter: Verfügen 16-Jährige über die Fähigkeiten, um Abstimmen zu gehen? Können sie sich ein differenziertes Urteil bilden? Können sie sich Informationen zusammensuchen? Können sie überlegen, was ihre Werte und Interessen sind?

Und hier lautet die Antwort: eindeutig ja, dies können 16-jährige Jugendliche. Ich finde, man sollte die Jugendlichen unbedingt miteinbeziehen, weil sie über diese Fähigkeiten verfügen und weil viele von ihnen Interesse an politischen Entscheidungen haben. Auch deshalb sollten sie in der Gesellschaft Gehör finden.

Das Gespräch führte Nurgül Koyuncuer.

Stimmrechtsalter 16: politisch umstritten

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Mit 16 reif genug für die Politik? Darüber diskutierten Jugendliche und junge Nationalrätinnen und Nationalräte in der SRF Arena vom 29.05.2020 .

Das Stimmrechtsalter wird in der Politik heiss diskutiert. Argumente der Befürworter sind unter anderem der aktive Einbezug der Jugendlichen in die Politik und die bestehende Reife.

Gegner argumentieren etwa, dass die Jugendlichen über viele Rechte und Pflichten noch nicht verfügen (beispielsweise Steuern zu zahlen) und
darum auch nicht darüber abstimmen sollten. Auch gehöre das aktive Stimmrecht (Abstimmen und Wählen) und das passive Stimmrecht (für politische Ämter kandidieren) zusammen. Das Stimmrechtsalter 16 würde aber nur das aktive Stimmrecht zulassen.

Aktuell stimmte der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative für das aktive Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige zu. Der Entscheid des Ständerates steht noch aus. Die ständerätliche Kommission hat sich dafür ausgesprochen .

SRF 1, Kulturplatz, 3.11.2021, 22:25 Uhr ; 

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