Können Sie sich an einen Ort erinnern, wo Sie sich verliebt haben? Wo Ihnen das Herz gebrochen wurde?
Lucas LaRochelle, ein 22-jähriger Student aus Montreal, erinnert sich an einen Baum: In dessen Schatten hatte seine erste Beziehung begonnen, dort hat er sich mit seinem ersten Freund oft gestritten.
Vor einem Jahr setzte er dem Baum ein Denkmal. Er markierte ihn mit einem Pin – dem ersten auf der interaktiven Karte seines Webprojekts «Queering the Map».
Weltkarte voller Geschichten
Die Webseite funktioniert wie Google Maps. Nur statt Sehenswürdigkeiten werden auf der pinken Weltkarte Orte gesammelt, wo Menschen geliebt, gestritten oder gelitten haben.
«Queering» ist ein Kunstwort dafür, dass ein Ort als Schauplatz von queeren Erlebnissen markiert wird – also Erlebnissen von Menschen, die nicht das Modell einer heterosexuellen Zweierbeziehung leben. Bei «Queering the Map» kann man auf einen beliebigen Ort klicken und davon erzählen, was sich dort ereignet hat.
Vor ungefähr einem Jahr hat LaRochelle das Projekt ins Leben gerufen. Sein Baum ist unterdessen einer von unzähligen schwarzen Pins auf der Karte – mehr als 16'000 sind dazugekommen.
«Ich will sichtbar machen, dass queere Geschichten keine versteckten, vereinzelten Erlebnisse sind. Sondern überall erzählt werden können», sagt Lucas LaRochelle. «Mit der eigenen Geschichte sichtbar zu sein, ist aber noch immer ein Privileg.»
Mit Tabus brechen
Genau hier setzt sein Projekt an: «Meine Absicht war es, durch das Sammeln dieser Mikro-Ereignisse ein lebendes Archiv queerer Geschichte zu schaffen.»
Meist sind auf der Weltkarte persönliche Erinnerungen verortet. Aber auch aktuelle und historische LGBT-Treffs sind verzeichnet. In Kanada, den USA oder Europa – aber auch in Ländern, in denen Homosexualität laut dem «Gay Travel Index» tabuisiert oder geächtet ist.
«Während endlos langweiligen, homophoben Gottesdiensten denke ich an meine Freundin», schreibt jemand in Nigeria, wo Homosexualität einen ins Gefängnis bringen kann. «Wir haben Händchen gehalten» – in Mauretanien, wo Homosexualität unter Todesstrafe steht.
Zwischen den Zeilen
Weil homophobe Trolle die Karte belagerten, musste LaRochelle sie zwischenzeitlich vom Netz nehmen. Um die Schreibenden zu schützen sind heute alle Einträge anonym.
Wer über wen geschrieben hat, wird auch aus einem anderen Grund offengelassen: Welche sexuelle Orientierung ein Autor oder eine Autorin hat, soll keine Rolle spielen. Was queer sein bedeute, überlasse er ganz den Schreibenden, so LaRochelle.
Wer sich durch die Karte klickt, liest oft von Diskriminierung, Ängsten und Ablehnung. Auch in unmittelbarer Nähe: «Habe mich gegenüber meinen Eltern geoutet. Sie haben mich gefragt, weshalb ich nicht einfach normal sein könne», schreibt jemand in der Schweiz.
Wenige Kilometer davon entfernt heisst es aber auch: «Wir haben uns auf der Strasse geküsst. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mich nicht geschämt, sondern war stolz.»
Emotionale Wegweiser
Die Karte ist bis an die Ränder voll mit solchen kleinen, persönlichen Erfolgserlebnissen. «Ich glaube, ich bin die erste lesbische Inuit – was für ein Abenteuer!», schreibt eine Frau in Alaska.
Im Stadtzentrum von Moskau erzählt jemand: «Wir haben uns zum ersten Mal draussen geküsst, in einem Hinterhof zwar, im Schnee, versteckt zwischen rostigen Rohren, zwischen Müll und Pisse, aber es war so verdammt romantisch.»
«Zum ersten Mal habe ich selbst mein Make-Up gemacht» – in Berlin Neukölln.
«Jemand hat eine Bibel nach uns geworfen. Es war mir egal» – in Kanada.
Auf der Karte kann man ranzoomen und sehen, wo sich das abspielte. Eine gesichtsloses Strasse. Ein Bahnhof. Ein Baum in einem Park: Es sind solche unscheinbaren Orte, die durch die geteilten Erinnerungen belebt werden. Und Teil einer Geschichte werden, über die es noch viel zu erzählen gibt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 16.5.18, 6.50 Uhr