Wenn die Polizei DNA an einem Tatort findet, ist das eine heisse Spur. Ein Haar, ein Blutstropfen oder auch nur eine Hautschuppe reicht oft, um das Erbgut des Täters oder der Täterin analysieren zu können.
Das Ergebnis wird mit den DNA-Profilen einer Datenbank abgeglichen und wenn es einen Treffer gibt, ist man der Lösung des Falles meist nahe. Was aber, wenn der Treffer ausbleibt? Die gesuchte Person ist den Ermittlungsbehörden noch nicht bekannt und ist deshalb in keiner DNA-Datenbank zu finden.
Dann kann die Polizei die Tatort-DNA zu Manfred Kayser schicken. Der forensische Molekularbiologe liest aus dem Erbgut heraus, wie die gesuchte Person aussehen könnte.
Der Präzedenzfall
In den meisten Ländern, auch in der Schweiz, ist das verboten. Forensiker dürfen für die Tätersuche nur die Abschnitte der DNA benutzen, die keine Gene enthalten und somit keine Aussagen über unser Aussehen geben (siehe Box).
Dass Kayser es darf, hängt mit einem Mord zusammen, der vor fast 20 Jahren in Nordfriesland geschah. Damals kam die 16-Jährige Marianne Vaastra nach einem Fest nicht nach Hause. Sie wurde am nächsten Tag gefunden, vergewaltigt und ermordet.
Die Bewohner der Region verdächtigten schnell die Bewohner eines nahe gelegenen Flüchtlingsheims. Es gab sogar Übergriffe auf die Asylbewerber. Schliesslich ordnete der Staatsanwalt einen DNA-Test an, der damals ganz neu war – und in den Niederlanden noch illegal: Mit ihm konnte man die ungefähre geografische Herkunft eines Menschen bestimmen.
Entlastendes Material
Die Polizei hatte das Sperma des Täters und somit seine DNA. Die Analyse des Y-Chromosoms deutete auf einen Mann mit nordwesteuropäischem Hintergrund hin, zumindest väterlicherseits. Das entlastete die beschuldigten Asylbewerber, denn sie kamen alle aus dem Mittleren Osten.
Gelöst wurde der Mordfall zwar erst 14 Jahre nach der Tat – es war ein Bauer aus der Gegend. Doch der Fall führte in den Niederlanden zur Verabschiedung eines Gesetzes. Dieses erlaubt, aus der DNA eines Täters Informationen zu dessen Aussehen und geografischer Herkunft herauszulesen.
DNA verrät Augen-, Haut- und Haarfarbe
Die Abteilung für Genetische Identifizierung am Medizinischen Institut der Universität Rotterdam, die Manfred Kayser leitet, ist seitdem führend bei der Entwicklung von DNA-Tests für die Forensik. Doch von einem Phantombild, das auf Basis unserer Gene entsteht, ist man noch meilenweit entfernt.
«Zurzeit können wir die Augen-, Haar- und Hautfarbe, also die drei Pigmentierungsmerkmale des Menschen, aus DNA-Spuren bestimmen», sagt Manfred Kayser. Er kann angeben, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person zum Beispiel blaue Augen, braune Haare und helle Haut hat. Für detailliertere Aussagen ist die genetische Forschung noch nicht weit genug.
Zwei weitere Merkmale kann der Biologe schon heute aus Tatort-DNA herauslesen: Von welchem Kontinent ein Mensch kommt und das Alter auf plus minus fünf Jahre genau. Mehr geht bisher noch nicht. Das hat einen Grund.
Die Nadel im Heuhaufen
Seit 2003 gilt das menschliche Erbgut als entschlüsselt. Zu gut 99 Prozent ist es bei allen Menschen gleich. Es enthält 20’000 bis 30’000 Gene. Aus Zwillingsstudien weiss man, dass der überwiegende Teil unseres Aussehens in unseren Genen stecken muss.
Doch welche Gene bringen welche Eigenschaft hervor? Welche führen zu blauer Augenfarbe, welche sind für grosse Füsse verantwortlich und welche für frühen Haarausfall?
Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Manfred Kayser hat dafür die Gesichter von tausenden Personen vermessen. Er hat ihr Erbgut analysiert und nach Bereichen gesucht, die etwas mit ihrem Aussehen zu tun haben.
So kennt er heute Gene, die die Augenfarbe beeinflussen. Er kann mit der DNA-Information aus nur sechs Genen blaue und braune Augen sehr akkurat bestimmen.
Tausende Gene für die Körpergrösse
Wie komplex diese Suche nach den Genen werden kann, zeigt die Körpergrösse. 700 Gene wurden bisher gefunden. Der Biologe Kayser schätzt, dass es tausende sind, die bestimmen, wie gross oder klein wir geraten. Zudem spielen auch die Lebensumstände eine grosse Rolle, etwa wie gut wir uns in der Kindheit und Jugend ernähren.
Bei den allermeisten Merkmalen steht die genetische Forschung erst am Anfang: Ohrform, angewachsene Ohrlappen, Augenabstand, Augenbrauendicke, Nasenform – überall haben Forscher bereits einige Gene gefunden. Bis sie helfen können, einen Mord aufzuklären, wird es noch lange dauern.
Medizinische Forschung hilft
Fragt man Manfred Kayser, wann es möglich sein wird, auf Basis einer DNA-Spur das vollständige Phantombild eines Menschen zu berechnen, klingt er ein wenig aufgebracht: «Das ist keine Frage der Zeit, es ist eine Frage des Geldes».
Das grosse Geld wird nicht in die forensische Forschung investiert, in der er tätig ist. Sondern in die medizinische. Medizinisch relevant ist nicht die Bestimmung der Gene für die Nasenlänge, sondern etwa jene für Diabetes Typ 2. Deshalb sind für die Zuckerkrankheit bereits viel mehr Gene bekannt.
Aber eben auch für Haarausfall, weil der frühe Haarausfall bei Männern als Krankheit gilt. Wie kahl jemand sein könnte, ist für die forensische DNA-Forschung wieder interessant.
Es ist ein Anfang
In einigen Jahren, so schätzt Manfred Kayser, wird er neben Augen-, Haar- und Hautfarbe, dem Alter und der geografischen Herkunft auch Haarform und Haarausfall aus Tatort-DNA bestimmen können. «Damit fangen wir an, das Aussehen zu beschreiben», sagt er.
Vielleicht wird es zu diesem Zeitpunkt auch in der Schweiz erlaubt sein, mit Tatort-DNA das Aussehen eines Täters zu bestimmen. Auch hier könnte ein Vergewaltigungsfall entscheidend für eine Gesetzesänderung sein: Das Verbrechen an einer jungen Frau in Emmen (LU) 2015, die als Folge vom Kopf abwärts gelähmt ist.
Die Polizei hat die DNA des Täters – doch mit den heute zulässigen Mitteln konnte er nicht gefunden werden. Derzeit ist eine Revision des DNA-Profilgesetzes in Arbeit.