Drama am «Tête Blanche»
Sonntagmorgen 2. April 2000: Unzählige Weltklasse-Skitourenläufer sind in Zermatt gerade erst zur Patrouille des Glaciers gestartet. Bis zum Ziel in Verbier stehen noch 100 strapaziöse Leistungskilometer mit 4000 Höhenmeter bevor. Das Wetter ist prächtig. Es geht kaum ein Lüftchen und die Temperaturen sind frühlingshaft mild. Es ist so mild, dass die schwer bepackten Athleten im kräftezehrenden Aufstieg zum Höhepunkt der Tour im T-Shirt unterwegs sind. Als sie bei blauem Himmel und zeitlich gut im Rennen auf der 3707 m hohen «Tête Blanche» ankommen, ahnt noch keiner der Beteiligten das unmittelbar bevorstehende Drama.
Ein Überlebender berichtet im Nachhinein folgendes: «Der Sturm brach extrem schnell über uns herein. Plötzlich frischte der Wind auf und, in weniger als 10 Minuten, wechselte das Wetter von Sonnenschein zum Schneesturm mit Windgeschwindigkeiten von 100 Kilometer pro Stunde.» (Meteo Magazine) Gemäss dem Geretteten heulte der Wind derart um die Ohren, dass man sich miteinander nur noch lauthals schreiend verständigen konnte. Es ging wohl um die Frage: Wo geht's lang? Denn im heftigen Schneetreiben dieses Sturms hatten selbst die Tourenkundigen komplett die Orientierung verloren. Auf 2 Meter Distanz konnte man sich nur noch mit Mühe erkennen und selbst die eigene Spur war in Windeseile verschwunden. Rasch stellte sich heraus - sie waren gefangen, gefangen in einem Blizzard.
In hastig gebuddelten Schneehöhlen harrten insgesamt zwölf Läufer über Nacht in der brutalen Kälte aus. Am darauffolgenden Tag waren zwei von Ihnen erfroren. Die anderen konnten zwar gerettet werden, hatten sich aber zum Teil Erfrierungen zugezogen.
Definition Blizzard
Diese schweren Schneestürme kommen bevorzugt in kargen und exponierten Gegenden der Erde vor, zum Beispiel an den Polen oder auf Berggipfeln. Wenn während mindestens 3 Stunden die mittlere Windgeschwindigkeit über 55 Kilometer pro Stunde liegt und die Sichtweite weniger als 400 Meter beträgt, dann spricht man von einem Blizzard. Der Begriff wurde zuerst in den Vereinigten Staaten verwendet und ist wohl eine Anlehnung an das deutsche Wort «blitzartig». Das gehäufte Auftreten von Blizzards in den Great Plains, wie dem Bundesstaat North Dakota, gab den Regionen gar den Namen «Blizzard-Allee».
Blizzards in Nordamerika ...
In den USA und in Kanada kommt es zu solchen kräftigen Schneestürmen, wenn kalte Luft aus den polaren Regionen mit feucht-warmer Luft vom Golf von Mexiko kollidiert. An diesen Kaltfronten kommt es zu Starkschneefall in Kombination mit stürmischem Wind. Durch den spärlichen Bewuchs der Prärie- und Grasslandschaften verfrachtet der Wind viele Tonnen Schnee und begräbt Strassen und Dörfer unter sich.
... in Europa
In Europa sind klassische Blizzards seltener und weniger kräftig. Dies einerseits wegen der störenden Ost-West verlaufenden Gebirgszüge wie dem Alpenbogen oder den Karpaten. Andererseits führt die heterogene Verteilung von Land- und Wassermassen in Europa zu weniger extremen Luftmassengegensätzen. Dennoch kommt es zeitweise zu Blizzards oder blizzardähnlichen Ereignissen. Am häufigsten auf Gebirgskämmen oder in grossen, kontinentalen Ebenen wie zum Beispiel in Rumänien.
... in der Schweiz
In der Schweiz kommt die gefährliche Kombination aus Sturm und Schneefall hauptsächlich in den Alpen und auf den Jurahöhen vor. Das Drama am «Tête Blanche» ist auf einen Föhnsturm zurückzuführen. Am selbigen Morgen beobachteten Teilnehmer in grösserer Entfernung im Aostatal Wolken. Diese schienen sich kaum vom Fleck zu bewegen. Während dem ersten Aufstieg der Athleten näherte sich die feuchte Luft unbemerkt. Kurz nachdem die Skitourenläufer den «Tête Blanche» erreichten, schwappten die dichten Schneewolken über die Alpenübergänge. Der Wind nahm schlagartig zu. Die Temperaturen stürzten in die Tiefe. Und die Sichtweite sankt bis auf wenige Meter.
Gefahren durch «Whiteout» ...
Bei Blizzards kommt es mit dem weissen Untergrund und dem weissen Himmel häufig zu einem «whiteout», einer kompletten Desorientierung. In den USA wird von Menschen berichtet, die in ihrem eigenen Vorgarten von einem heranrollenden Blizzard überrascht wurden. Sie konnten den kurzen Weg bis ins rettende Haus nur noch ertasten. Zudem machen die Windböen einen ohrenbetäubenden Lärm. Gemäss Robert Bolognesi von Meteorisk führen diese Luftdruckschwankungen vielfach zu Beeinträchtigungen des Gleichgewichtsinns und erschweren das Aufrechtgehen zusätzlich.
... Schneeverwehungen
Blizzards verfrachten je nach Gewicht des Schnees und je nach Windgeschwindigkeit unterschiedlich viel Schnee. Von starken und intensiven Blizzards ist dann die Rede, wenn Schneeverwehungen den Verkehr komplett blockieren und Stromausfälle das öffentliche Leben erstarren lassen. In steilem Gelände kommt es zudem durch die Verfrachtung von Schnee zu gefährlichen Triebschneeansammlungen und Schneewechten. Kommt es an den Gebirgsgraten zu Wechtenabbrüchen, donnern zerstörerische Lawinen ins Tal.
... «Windchill»
Die grösste Gefahr für den Menschen lauert jedoch in der Kälte dieser Winterstürme. Beim Drama auf der «Tête Blanche» lagen die gemessenen Temperaturen in diesen Höhenlagen zwar nicht extrem tief. Jedoch die Kombination aus -10 Grad und Windgeschwindigkeiten von 100 km/h liessen die Temperatur für die Sportler wie -35 Grad anfühlen. Dieser zusätzliche Wärmeverlust durch Wind wird auch als «Windchill» Effekt bezeichnet.
Weltweit grösste Blizzardtragödie
Der bisher tödlichste Blizzard weltweit ereignete sich 1972 im Iran. Während knapp einer Woche kam es zu ungewohnt ergiebigem Schneefall bei bitterkalten Temperaturen und eisigen Winden. Eine riesige Fläche wurde unter einer bis zu 8 Meter hohen Schneedecke begraben. In 200 eingeschneiten Dörfern fanden 4000 Menschen den Kältetod.
Quellen:
- Meteo Magazine No 16, Föehn, Seite 50, (französisch), Meteo Risk, Robert Bolognesi
- RTS Archives, Extreme Limite a la patrouille des glaciers, 10. Mai 2000
- National Weather Service, Glossary Blizzard
- 40 Years Ago, Iran Was Hit by the Deadliest Blizzard in History, Mental Floss
- NOAA Photo Library, Blizzard March 1966, North and South Dakota