Die Bündner Bevölkerung hat am 15. Mai die Wahl: Von der Surselva bis in die Bündner Herrschaft, vom Misox bis ins Engadin treten in allen 39 Wahlkreisen insgesamt 491 Männer und Frauen an. Es ist ein Novum in der Bündner Politgeschichte.
«Bisher gab es deutlich weniger Kandidierende bei den Grossratswahlen», sagt der Bündner Politikwissenschaftler Clau Dermont, der die Politikszene im Kanton schon lange beobachtet.
Bis jetzt waren die Bündner Grossratswahlen häufig schon vor dem Urnengang entschieden. In vielen Wahlkreisen traten gleich viele Personen an wie Sitze zu vergeben sind. Gewählt wurde nach dem Majorz, das heisst: Wer die meisten Stimmen bekam, war gewählt. Gut verankerte Parteien und bekannte Persönlichkeiten in den Regionen waren im Vorteil – Lokalmatadoren zu stürzen meist ein Ding der Unmöglichkeit.
Partei wichtiger als früher
Neu wählt Graubünden das Parlament mit dem Doppelproporz. Dies führt dazu, dass die Stärke einer Partei matchentscheidend ist. Erstmals gibt es deshalb Listen wie bei den Nationalratswahlen.
Die Sitze werden in einem ersten Schritt gesamtkantonal und proportional je nach Parteistärke verteilt. Das heisst, alle Stimmen einer Liste wandern zunächst in einen gemeinsamen Topf, erst nachher folgt die Verteilung auf die 39 Wahlkreise und die Kandidierenden.
Die Parteien haben ein Interesse, in möglichst allen Wahlkreisen anzutreten. So steigen die Chancen, Sitze zu erringen. Das führt dazu, dass nun in den meisten Kreisen eine grosse Auswahl an Kandidierenden vorhanden ist. «Für den Kanton Graubünden ist das eine Zeitenwende», so Dermont.
Die Parteien mussten sich in den Regionen nach der Decke strecken, um genügend Kandidierende zu finden. Kreis-Parteien wurden wiederbelebt, neu gegründet oder frisch aufgestellt. Diese Belebung kann, laut Dermont, auch nach den Wahlen Wirkung zeigen.
Für den Kanton Graubünden ist das eine Zeitenwende.
«Die Parteien haben nun viel mehr Personal, auf das sie bei Gemeindewahlen oder auch bei kantonalen Abstimmungen zurückgreifen können», erklärt der Politikwissenschaftler.
Auswirkungen des Systemwechsels schwer vorhersehbar
Schwierig zu sagen sei, welche Auswirkungen der Wechsel auf die Sitzverteilung im Rat habe, sagt Clau Dermont.
Viele Bisherige treten zu den Wahlen an, diese hätten auch im neuen System einen Vorteil gegenüber den Neuen. «Trotzdem: Weil viele Neue kandidieren und Parteien in Gegenden antreten, wo sie bisher nicht angetreten sind, wird es zu Verschiebungen kommen», so Dermont.
Eine genaue Prognose wagt der Politexperte nicht. Zu viele Elemente würden sich ändern. Mehr Kandidierende, ein neues Berechnungsmodell und – weil es in mehreren Kreisen zu einer echten Auswahl kommt – rechnet Dermont mit einer höheren Wahlbeteiligung als sonst. «All das führt zu viel Unsicherheit, sodass man eigentlich keine saubere Prognose machen kann.»
Beobachter gehen davon aus, dass beim Proporz kleinere Parteien profitieren. In Graubünden gehören unter anderem SP, GLP und SVP dazu.
Langer Weg zum Proporz
Die Einführung des Proporz war in Graubünden während Jahrzehnten ein politischer Dauerbrenner. Zwischen 1937 und 2013 gab es acht Anläufe, den Wahlmodus zu ändern, alle waren erfolglos. Schliesslich zwang das Bundesgericht 2019 den Kanton Graubünden zu einer Anpassung des Wahlsystems. Bei der letzten Abstimmung 2021 nahm die Stimmbevölkerung dann den Wechsel zum Proporz deutlich an. Denn Doppelproporz kennen auch Kantone wie Zürich und Aargau.