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Leben am Existenzminimum – wie Nadja mit 2677 Franken im Monat auskommt
Aus Impact vom 16.10.2024.
abspielen. Laufzeit 17 Minuten 20 Sekunden.

Armut in der Schweiz Leben am Existenzminimum: Nadja teilt ihre Armut auf Social Media

In der Schweiz leben viele Menschen in Armut, oft unsichtbar und unbeachtet. Sie kämpfen, um ihren Alltag zu meistern.

«Ich bin Nadja, 24, alleinerziehendes Mami – und ich lebe am Existenzminimum.» So beginnen die meisten Tiktoks und Instagram-Reels von Nadja Chahdi.

Was Nadja von anderen in ähnlicher Situation unterscheidet, ist ihre Offenheit im Umgang mit Armut, und ihre Präsenz auf Social Media. Mit über 17'000 Followern auf Instagram und mehr als 29'000 auf Tiktok teilt sie ungeschönt ihr Leben am Existenzminimum.

Sie zeigt, wie sie ihre Einkäufe plant und durchführt, wie sie Reste kreativ verwertet, um möglichst sparsam mit ihren begrenzten Mitteln umzugehen, und spricht offen über die psychischen Belastungen, die diese Situation mit sich bringt.

Nadja sitzt auf dem Sofa und schreibt eine Einkaufsliste
Legende: Nadja schreibt zweimal pro Monat eine detaillierte Einkaufsliste. SRF

Für viele ihrer Follower ist sie ein Vorbild an Stärke und Resilienz, für andere stellt sie eine grosse Angriffsfläche dar.

Armut – kein Randthema 

702’000 Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen. Dies geht aus einer Erhebung aus dem Jahr 2020 hervor, die das Bundesamt für Statistik (BFS) diesen Frühling veröffentlicht hat. Das entspricht 8.2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer: 8.6 Prozent vs. 7.8 Prozent.

Armutsgefährdet sind in der Schweiz 1.34 Millionen Menschen. Damit sind alle Personen gemeint, welche armutsbetroffen sind, plus jene, welche nur knapp über der Armutsgrenze leben.

Leben in der Schweiz am Existenzminimum 

In der Schweiz gilt das Leben am Existenzminimum oder in Armut oft als unsichtbares Problem. Alleinerziehende wie Nadja stehen vor besonderen Herausforderungen.

Begriffe rund um Armut

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Leben am Existenzminimum

Das Existenzminimum beschreibt das erforderliche Einkommen, um die grundlegendsten Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft und medizinische Versorgung zu decken. In der Schweiz wird das Existenzminimum von den Kantonen unterschiedlich berechnet. Wer am Existenzminimum lebt, hat meist keinen Spielraum für Ausgaben jenseits der absoluten Grundbedürfnisse.

Armutsbetroffen

Die Armutsgrenze wird von den Richtlinien der Konferenz für Sozialhilfe (Skos) abgeleitet und betrug 2022 durchschnittlich 2284 Franken im Monat für eine Einzelperson und 4010 Franken für zwei Erwachsene mit zwei Kindern. Wer armutsbetroffen ist, hat oft Schwierigkeiten, die Lebenshaltungskosten vollständig zu decken, was zu sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen führt.

Armutsgefährdet 

Als armutsgefährdet gilt eine Person, deren Einkommen sich nur knapp über der Armutsgrenze bewegt und die somit ein erhöhtes Risiko hat, in Armut zu geraten. In der Schweiz wird dies oft durch das sogenannte 60-Prozent-Median-Einkommen berechnet. Personen oder Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des Medianlohns der Bevölkerung beträgt, gelten als armutsgefährdet. Für das Jahr 2022 lag dieser Wert für Einzelpersonen bei etwa 2400 Franken pro Monat. Diese Personen können zwar aktuell ihre Lebenshaltungskosten decken, laufen aber bei unerwarteten Ausgaben (z. B. Krankheit, Arbeitslosigkeit) in Gefahr, arm zu werden. 

Caritas Schweiz arbeitet mit verschiedenen Ausdrücken, um die unterschiedlichen Stufen von Armut und wirtschaftlicher Belastung zu kennzeichnen. Die zentralen Begriffe sind «Leben am Existenzminimum», «Armutsbetroffen» und «Armutsgefährdet». Diese Begriffe beschreiben unterschiedliche Ausprägungen finanzieller Schwierigkeiten und basieren häufig auf offiziellen Statistiken und festgelegten Kriterien. 

Das Existenzminimum von Nadja und ihrer dreijährigen Tochter Elina liegt bei 2677 Franken. Die Gemeinde, in der die beiden leben, hat diesen Betrag definiert – sie benötigen ihn, um überleben zu können.

Social Media als Plattform für Veränderung 

Für Nadja ist Social Media mehr als nur ein Nebenverdienst – es ist eine Plattform, um Aufmerksamkeit auf wichtige gesellschaftliche Themen zu lenken. Ihre Reichweite hat es ihr ermöglicht, die Problematik von Armut und alleinerziehender Mutterschaft in der Schweiz sichtbarer zu machen.

Mein eigentliches Ziel mit Social Media ist es, das Tabu zu brechen.
Autor: Nadja Chahdi Alleinerziehende Mutter

Viele Menschen, die ihre Inhalte sehen, berichten, dass sie sich durch Nadjas Geschichten weniger allein fühlen.

Nadja sagt: «Mein eigentliches Ziel mit Social Media ist es, das Tabu zu brechen.» Sie wolle zeigen, dass man auch ein gutes Leben haben könne, wenn man nicht so viel Geld habe wie der Rest der Gesellschaft. Dennoch ist das Leben als Influencerin kein Ersatz für ein stabiles Einkommen. Kooperationen sind unregelmässig, und es ist schwer, sich allein darauf zu verlassen. Auch das thematisiert sie auf ihren Kanälen.

Der Kreislauf der Armut 

Nadja ist selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und kennt diesen Zustand seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter hat Nadja und ihre zwei Geschwister ebenfalls alleinerziehend betreut. Der Kreislauf der «generationalen Armut» – wenn finanzielle Not über Generationen hinweg weitergegeben wird – begleitet sie.

Trotzdem sagt Nadja, dass sie für ihre aktuelle Situation selbst verantwortlich ist: «Hätte ich meine Ausbildung beendet, danach einen normalen Job gehabt und wäre ich nicht so früh gewollt schwanger geworden, müsste ich heute nicht in Armut leben.»

Nadja und ihre Tochter Elina auf der Rutschbahn auf dem Spielplatz
Legende: Nadjas kleine Tochter Elina ist ihre erste Priorität. SRF

Nadja entschied sich mit nur 19 Jahren, im ersten Lehrjahr als Fachfrau Betreuung in einer Kita, mit ihrem damaligen Freund ein Kind zu bekommen. Sie unterbrach die Lehre und machte dann als junge Mutter weiter, musste die Ausbildung aber krankheitsbedingt abbrechen. 

Zwischen Depressionen und dem Wunsch nach Unabhängigkeit 

Nadjas psychische Gesundheit ist ein weiteres zentrales Thema in ihrem Leben. Ihre Depressionen erschweren es ihr, eine feste Arbeit zu halten. Der Druck, sich um ihre Tochter zu kümmern und gleichzeitig den finanziellen Anforderungen gerecht zu werden, verstärkt die Belastungen zusätzlich.

Risikofaktoren für Armut

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Wichtige frühe Lebensjahre 
Kinder brauchen die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren, ihre Umgebung zu erkunden und sich zu bewegen. Bei Familien in schwierigen Verhältnissen sind jedoch die Wohnungen oft zu klein, die Umgebung unsicher und den Eltern fehlen sowohl Zeit als auch Geld, um ihre Kinder ausreichend zu unterstützen. Dadurch starten diese Kinder bereits beim Eintritt in den Kindergarten mit schlechteren Voraussetzungen. Das hat ernsthafte Konsequenzen, denn ein Mangel an Bildung erhöht das Risiko, später in Armut zu leben, erheblich. 

Unsichere Arbeitsverhältnisse 
Menschen ohne anerkannte Ausbildung haben geringere Chancen auf ein existenzsicherndes Einkommen und sind häufig gezwungen, in unsicheren Jobs mit niedrigen Löhnen und wenigen Arbeitsstunden zu arbeiten. Oft reicht das nicht aus, um sich und eine Familie zu versorgen, was zu geringerer sozialer Anerkennung und später zu niedrigen Renten führt. In vielen prekären Arbeitsverhältnissen, wie Stundenlohnjobs, ist zudem die soziale Absicherung unzureichend. Nur wenige können sich eine Weiterbildung leisten, die ihre Chancen auf einen besseren Job verbessern könnte.

Hohe Gesundheitskosten 
Die Krankenkassenprämien steigen seit Jahren und sind für Haushalte mit geringem Einkommen schwierig zu stemmen. Schon der Selbstbehalt von zehn Prozent übersteigt oft deren finanzielle Möglichkeiten. Viele entscheiden sich daher für eine hohe Franchise, um die Prämien zu senken, was jedoch negative Folgen hat: Sie verzichten auf notwendige Arztbesuche und Medikamente, da sie die Kosten selbst tragen müssten, oder sie verschulden sich. 

Familienarmut 
Kinder stellen ein Armutsrisiko dar. Viele Eltern, insbesondere Mütter, reduzieren ihre Arbeitszeit, weil Kinderbetreuungsangebote zu teuer sind oder, wie bei Schichtarbeit, keine geeignete Lösung bieten. Dies führt zu geringeren Einkommen und später zu minimalen Renten im Alter. 

Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen. Sie ist derzeit krankgeschrieben und auf Stellensuche, während sie gleichzeitig über Social Media versucht, ein zusätzliches Einkommen zu generieren. Durch Kooperationen mit Marken, die sie auf ihren Plattformen bewirbt, verdient sie etwas Geld. Sie ist auf Unterstützung des Sozialdienstes angewiesen. Jeden Monat legt sie ihre Ein- und Ausgaben offen und erhält entsprechende Zahlungen.

Nadjas Ziel ist es, eine Anstellung zu finden und genügend Geld mit Social Media zu verdienen. Um finanziell unabhängig zu sein und Elina ein besseres Leben zu bieten. Für sie steht fest: Ihre Tochter soll nicht in Armut aufwachsen: «Ich will meiner Tochter alles ermöglichen können.»

«SRF Impact»

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Sie sehen das Logo von SRF Impact.
Legende: SRF

So kompliziert und vielschichtig unsere Welt auch ist, wir wollen sie verstehen. Dafür gehen wir auf die Suche nach Antworten: In Reportagen tauchen wir ein in unsere Schweizer Gesellschaft und nehmen dich mit: Gib dir Deep Talk, Zweifel und Lichtblicke mit unseren Hosts Amila Redzic, Livio Carlin und Michelle Feer.

Alle Folgen «SRF Impact» sind auf Play SRF.

SRF Virus, 17.10.2024, 8 Uhr;kobt

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