«Ich bin Nadja, 24, alleinerziehendes Mami – und ich lebe am Existenzminimum.» So beginnen die meisten Tiktoks und Instagram-Reels von Nadja Chahdi.
Was Nadja von anderen in ähnlicher Situation unterscheidet, ist ihre Offenheit im Umgang mit Armut, und ihre Präsenz auf Social Media. Mit über 17'000 Followern auf Instagram und mehr als 29'000 auf Tiktok teilt sie ungeschönt ihr Leben am Existenzminimum.
Sie zeigt, wie sie ihre Einkäufe plant und durchführt, wie sie Reste kreativ verwertet, um möglichst sparsam mit ihren begrenzten Mitteln umzugehen, und spricht offen über die psychischen Belastungen, die diese Situation mit sich bringt.
Für viele ihrer Follower ist sie ein Vorbild an Stärke und Resilienz, für andere stellt sie eine grosse Angriffsfläche dar.
Armut – kein Randthema
702’000 Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen. Dies geht aus einer Erhebung aus dem Jahr 2020 hervor, die das Bundesamt für Statistik (BFS) diesen Frühling veröffentlicht hat. Das entspricht 8.2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer: 8.6 Prozent vs. 7.8 Prozent.
Armutsgefährdet sind in der Schweiz 1.34 Millionen Menschen. Damit sind alle Personen gemeint, welche armutsbetroffen sind, plus jene, welche nur knapp über der Armutsgrenze leben.
Leben in der Schweiz am Existenzminimum
In der Schweiz gilt das Leben am Existenzminimum oder in Armut oft als unsichtbares Problem. Alleinerziehende wie Nadja stehen vor besonderen Herausforderungen.
Caritas Schweiz arbeitet mit verschiedenen Ausdrücken, um die unterschiedlichen Stufen von Armut und wirtschaftlicher Belastung zu kennzeichnen. Die zentralen Begriffe sind «Leben am Existenzminimum», «Armutsbetroffen» und «Armutsgefährdet». Diese Begriffe beschreiben unterschiedliche Ausprägungen finanzieller Schwierigkeiten und basieren häufig auf offiziellen Statistiken und festgelegten Kriterien.
Das Existenzminimum von Nadja und ihrer dreijährigen Tochter Elina liegt bei 2677 Franken. Die Gemeinde, in der die beiden leben, hat diesen Betrag definiert – sie benötigen ihn, um überleben zu können.
Social Media als Plattform für Veränderung
Für Nadja ist Social Media mehr als nur ein Nebenverdienst – es ist eine Plattform, um Aufmerksamkeit auf wichtige gesellschaftliche Themen zu lenken. Ihre Reichweite hat es ihr ermöglicht, die Problematik von Armut und alleinerziehender Mutterschaft in der Schweiz sichtbarer zu machen.
Mein eigentliches Ziel mit Social Media ist es, das Tabu zu brechen.
Viele Menschen, die ihre Inhalte sehen, berichten, dass sie sich durch Nadjas Geschichten weniger allein fühlen.
Nadja sagt: «Mein eigentliches Ziel mit Social Media ist es, das Tabu zu brechen.» Sie wolle zeigen, dass man auch ein gutes Leben haben könne, wenn man nicht so viel Geld habe wie der Rest der Gesellschaft. Dennoch ist das Leben als Influencerin kein Ersatz für ein stabiles Einkommen. Kooperationen sind unregelmässig, und es ist schwer, sich allein darauf zu verlassen. Auch das thematisiert sie auf ihren Kanälen.
Der Kreislauf der Armut
Nadja ist selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und kennt diesen Zustand seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter hat Nadja und ihre zwei Geschwister ebenfalls alleinerziehend betreut. Der Kreislauf der «generationalen Armut» – wenn finanzielle Not über Generationen hinweg weitergegeben wird – begleitet sie.
Trotzdem sagt Nadja, dass sie für ihre aktuelle Situation selbst verantwortlich ist: «Hätte ich meine Ausbildung beendet, danach einen normalen Job gehabt und wäre ich nicht so früh gewollt schwanger geworden, müsste ich heute nicht in Armut leben.»
Nadja entschied sich mit nur 19 Jahren, im ersten Lehrjahr als Fachfrau Betreuung in einer Kita, mit ihrem damaligen Freund ein Kind zu bekommen. Sie unterbrach die Lehre und machte dann als junge Mutter weiter, musste die Ausbildung aber krankheitsbedingt abbrechen.
Zwischen Depressionen und dem Wunsch nach Unabhängigkeit
Nadjas psychische Gesundheit ist ein weiteres zentrales Thema in ihrem Leben. Ihre Depressionen erschweren es ihr, eine feste Arbeit zu halten. Der Druck, sich um ihre Tochter zu kümmern und gleichzeitig den finanziellen Anforderungen gerecht zu werden, verstärkt die Belastungen zusätzlich.
Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen. Sie ist derzeit krankgeschrieben und auf Stellensuche, während sie gleichzeitig über Social Media versucht, ein zusätzliches Einkommen zu generieren. Durch Kooperationen mit Marken, die sie auf ihren Plattformen bewirbt, verdient sie etwas Geld. Sie ist auf Unterstützung des Sozialdienstes angewiesen. Jeden Monat legt sie ihre Ein- und Ausgaben offen und erhält entsprechende Zahlungen.
Nadjas Ziel ist es, eine Anstellung zu finden und genügend Geld mit Social Media zu verdienen. Um finanziell unabhängig zu sein und Elina ein besseres Leben zu bieten. Für sie steht fest: Ihre Tochter soll nicht in Armut aufwachsen: «Ich will meiner Tochter alles ermöglichen können.»