Entdeckt haben diese Anomalien die Demografen Michel Poulain und Gianni Pes ab dem Jahr 2000 in Dörfern in Sardinien und zeichneten mit einem blauen Stift auf einer Karte einen Kreis darum – der Begriff «Blue Zones» war geboren. Der US-Journalist Dan Buettner machte die «Blue Zones» im Jahr 2005 im Magazin National Geographic bekannt – und verdient seither eine Menge Geld mit Büchern, Kochrezepten oder Beratungsmandaten. Den Begriff «Blue Zones» hat Buettner sogar patentieren lassen.
Zu den «Blue Zones» zählen laut Buettner nebst Nicoya in Costa Rica auch die Kleinstadt Loma Linda in Kalifornien, Teile der italienischen Insel Sardinien, die griechische Insel Ikaria sowie die japanische Inselgruppe Okinawa.
Langlebigkeit fasziniert die Menschen. Fünf SRF-Korrespondentinnen und -Korrespondenten besuchen die fünf Regionen der Welt, deren Bewohnerinnen und Bewohner durchschnittlich länger und gesünder leben.
Ich war darauf vorbereitet, fitte Hundertjährige in Costa Rica zu treffen. Aber als ich Ramiro Guadamuz Chavarría kennenlerne, bin ich sprachlos: Er hievt den schweren Ledersattel zu seinem Pferd, wirft ihn auf dessen Rücken, zieht die Riemen stramm und steigt auf. 101 Jahre ist Ramiro alt. Jeden Morgen steht er mit der Sonne auf und geht arbeiten. Seit Kindestagen. «Ich reite die jungen Pferde noch immer selbst zu», sagt er stolz. Dann treibt er eine Herde von rund 50 Rindern von einer Weide auf die nächste. Ein junger Mann könnte es nicht besser.
Zum Glück ist Ramiro nicht beleidigt, als ich ihn um seinen Ausweis bitte. Das Foto ist längst verblasst, aber das Geburtsdatum ist eindeutig: 13. August 1921. Ramiro lacht und macht Kaffee für uns beide. Als seine Enkelinnen zu Besuch kommen, rufen sie bei Youtube heimische Folklore-Musik auf. Es dauert keine zwei Minuten und Ramiro eröffnet die Tanzfläche.
«Was ist Ihr Geheimnis?» frage ich ihn. «Viel Arbeiten, immer in Bewegung bleiben», sagt Ramiro. Dann fügt er hinzu: «Fast kein Fleisch essen. Kleine Portionen, von allem, und nicht spät abends essen. Aber man muss auch das Leben geniessen, vor allem die Jugend.»
Damit fasst der 101-jährige vieles von dem zusammen, worin Wissenschaftler seit langem die Gründe für die Langlebigkeit in dieser Region vermuten. Dennoch: Endgültig gelöst ist das Rätsel um die Hundertjährigen auf der Nicoya-Halbinsel nicht. Beeindruckend ist nicht nur deren hohes Alter, sondern auch ihre Gesundheit. Was wir wissen: Sie bauen selbst an, was sie essen. Sie bewegen sich viel. Gehen früh schlafen, stehen früh auf. Zu ihrem gesunden Lebensstil kommt hartes Wasser mit viel Kalzium und Magnesium. Religiosität gibt den Menschen in der Region einen Sinn im Leben. Sie sind stark in ein familiäres Umfeld eingebunden, haben viele Freunde. Sie essen viel Reis und Bohnen, konsumieren wenig Zucker.
Als wir Dora Bustos Duarte treffen, wird schnell klar, wie selten sie Softdrinks trinkt: «Schwarzes Wasser» nennt sie Coca Cola. «Ich habe nie geraucht. Einmal habe ich ein halbes Glas Bier getrunken, das war's», fügt Dora hinzu. Kaum fünf Minuten bleibt sie ruhig sitzen. Einmal steht sie auf und schaut, ob ihre Hühner Eier gelegt haben. Ein anderes Mal fegt sie den Hof. «Man muss immer in Bewegung bleiben», sagt sie, «das ist wichtig».
Am Ende der Reise ist mir klar: Von den Hochbetagten können vor allem Städter viel lernen. Vermutlich werden wir auch so nicht hundert Jahre alt. Aber ein gesünderes Leben führen – schaden kann es nicht.
Im Herzen Sardiniens, also in der Mitte der Insel, liegen die Ogliastra und die Barbagia – die «Blue Zone» Sardiniens.
Gefühlt Tausende von engen Kurven führen mich mit dem Auto immer weiter hinauf in die abgelegenen Bergdörfer. Es ist ein einfaches und abgeschiedenes Leben hier oben. Nur wenige Touristen schaffen es hierher – als Besucherin falle ich schnell auf.
Die Menschen allerdings sind interessiert und zuvorkommend. Und sie öffnen mir sogleich ihre Türen. Zum Beispiel Signora Rosa, 97 Jahre alt. Sie lebt bei ihren Kindern. Jeweils acht Tage bei der einen Tochter, dann gehts weiter zur nächsten. Signora Rosa hat ein Leben lang draussen auf dem Feld gearbeitet. Heute nimmt sie es lieber etwas gemütlicher und verbringt viel Zeit mit den Enkelkindern. «Ich fühle mich hier gut, meine Enkel und Grossenkel mögen mich sehr – vielleicht sogar mehr als meine Kinder», sagt sie lachend. Die Familie und der Glaube seien ihr das Wichtigste.
Wer in der Ogliastra und der Barbagia alt wird, lebt bei den Kindern oder den Nichten und Neffen. Altersheime gibt es hier nicht. Dadurch sind der Austausch und die soziale Dazugehörigkeit besonders gross. Das sei ein wichtiger Grund, um besonders alt zu werden, sagt mir Signora Rosa.
Für Anselmo Corda, 84 Jahre alt, gibt es aber noch andere Gründe, warum die Menschen hier so alt werden. «Das Geheimnis ist die frische Luft, die wir täglich einatmen und unser Essen – wir essen hier nur natürliche Produkte, nichts von diesem chemischen Zeug – das zerstört die Gesundheit.»
Seit über 40 Jahren bewirtschaftet er Olivenhaine und Weinreben. Auch mit 84 denkt er nicht ans Aufhören. Früher habe er einige Jahre in Fabriken in Deutschland gearbeitet. Zum Glück sei er zurückgekehrt in die Ogliastra – die Luft in den Fabriken sei sehr schlecht gewesen.
In der «Blue Zone» in Sardinien werden die Männer gleich alt wie die Frauen. Das sei weltweit einzigartig, erzählt mir Gianni Pes, Professor an der Universität von Sassari. Grund sei die hohe körperliche Aktivität der Männer. Für ihre Arbeit als Hirten würden sie teils bis zu 30 Kilometer pro Tag zurücklegen.
Seit über 20 Jahren erforscht Pes die Langlebigkeit der Menschen hier – hat diese hier gar als Erster entdeckt. Seit 2016 gibt es auf der Insel auch ein Observatorium, das sich mit den Gründen der Langlebigkeit befasst. Zu Beginn der Forschung dachte man noch, es gebe ein Gen für ein langes Leben. «Heute wissen wir: Gerade mal sechs bis zehn Prozent der Langlebigkeit lassen sich mit Sicherheit durch Gene erklären. Der Rest liegt am gesunden Lebensstil.»
Gastfreundschaft wird in Okinawa grossgeschrieben, das merke ich sofort bei meinem Besuch. Die Menschen sind sehr nett, schnell werde ich zu einer Tasse Tee und einer Kleinigkeit dazu eingeladen. Die hohe Lebenserwartung auf Okinawa ist auf das Essen, das eher ruhigere Leben, die körperliche Aktivitäten im Alltag, wie auch auf den sozialen Halt in der Familie und der Gesellschaft zurückzuführen.
Das Essen ist vielfältig mit saisonalen Zutaten. Gemüse und Früchte aus der Region, dazu Fleisch, Fleisch, Tofu und mineralhaltige Algen. Die Menschen auf Okinawa essen im Schnitt doppelt so viele Algen wie der japanische Durchschnitt. Berühmt sind auf Okinawa Lebensmittel wie Goya, auf Deutsch auch Bittermelone genannt, sowie Umibudo – übersetzt «Meerestraube» – eine Algenart, die kleinen Trauben ähnelt.
Die soziale Verankerung findet man in den Familien und im Freundes- und Bekanntenkreis. In der Sprache der Einheimischen gibt es die Wörter «Moai» – auf Deutsch «soziale Unterstützung» – und «Ikigai» – auf Deutsch «Lebenssinn». Die soziale Unterstützung gibt den Menschen mehr Lebenssinn, die Menschen motivieren sich gegenseitig, was am Ende zur einer stärkeren Lebensmotivation führt.
Mir ist aufgefallen, dass die Senioren auf Okinawa nicht in erster Linie gesund essen und leben, weil ihnen jemand sagt, dass sie gesund essen und sich bewegen müssen, sondern die Menschen auf Okinawa leben gesund, weil sie motiviert sind, die Bewegung gehört zum ganz normalen Alltag und sie essen die traditionellen Lebensmittel, weil diese lecker schmecken. Gemäss Umfragen hat Okinawa die glücklichste Bevölkerung innerhalb Japans.
Doch gerade bei der jüngeren Generation nimmt das Bewusstsein für das traditionelle Leben und Essen ab. In den städtischen Gebieten wie etwa in der Hauptstadt Naha leben die Menschen sehr westlich, Fastfood ist beliebt. Auch essen die Menschen heute deutlich mehr Zucker und Salz. Die Lebenserwartung ist in den letzten Jahren auf Okinawa leicht zurückgegangen. Okinawa steht daher vor der Herausforderung, wie die westlichen Einflüsse und Gepflogenheiten mit der gesunden, japanischen Tradition verbunden werden können.
Jeden Tag geht Ester van den Hoven mit zügigem Schritt und aufrechter Haltung spazieren – zweimal. Auf unsere Bitte geht sie zum Filmen etwas langsamer. «So kommt man doch nicht weiter», protestiert sie. Ester van den Hoven ist 98 Jahre alt.
In Loma Linda leben besonders viele der Siebenten-Tags-Adventisten, Mitglieder einer evangelischen Freikirche. Ihre Gemeinschaft gilt als eine der «Blue Zones» – mitten in der modernen amerikanischen Lebenswelt im Einzugsgebiet von Los Angeles.
Was mir auffällt, ist Esters Sinn für Humor. Und immer wieder ihr Wille, die Dinge positiv zu sehen. «Manchmal an unserem Tisch, wird geschimpft, dass das Wetter schlecht ist oder das Essen nicht mehr heiss. Dann sage ich nichts, denn ich will nicht helfen mit dem Negativen.»
Ester wohnt in einem Altersheim für Adventisten. Regelmässig kommt Marijke Sawyer zu Besuch, auch sie ist Adventistin. Sie sagt, anderen zu helfen sei ein wichtiger Teil ihres Glaubens. «Es geht um das Dienen, um die Gemeinschaft, um Gott und die Haltung der Dankbarkeit.»
Marijke nimmt uns mit zu einer Hilfsaktion. Die 75-Jährige packt schwungvoll Kisten mit Hilfsgütern auf ihren Pickup, um sie an Obdachlose zu verteilen.
Bei Sonnenuntergang am Freitagabend beginnt für die Adventisten der Sabbat. Ich bin eingeladen bei der Familie von Loida Medina. Drei Generationen sind zusammengekommen, um zu singen, zu beten und gemeinsam zu essen.
Loida ist 84 und spielt regelmässig Pickle Ball. Die Ärztin hat erst vor kurzem ihre Notfallpraxis abgegeben. Doch nun wird sie wieder anfangen, Teilzeit zu arbeiten.
Für die Adventisten ist der Sabbat ein Tag Pause vom «Wahnsinn des Lebens», wie Ernie Medina sagt. «Wir glauben, dass der Körper ein Tempel ist. Deshalb tragen wir ihm Sorge. Darum essen wir gesund, treiben Sport, schlafen genug, kontrollieren den Stress. Der Sabbat ist wichtig, um mit Freunden und Familie zusammen zu sein.» Alkohol oder Rauchen verbietet die Religion.
Muss ich Adventistin werden, um älter zu werden?
Das frage ich den Autor Dan Buettner, der die «Blue Zones» über Jahrzehnte erforscht hat. «Nicht unbedingt», sagt er. «Aber wir wissen von grossen Übersichtsstudien, dass Leute, die einer Glaubensgemeinschaft angehören und mindestens viermal im Monat an einem Gottesdienst teilnehmen, 4-14 Jahre länger leben als Leute ohne Religion.» Ob der Grund dafür sei, dass die Religion schlicht gesunde Lebensweisen fördere, sei offen. Doch in allen «Blue Zones» spiele der Lebenszweck eine wichtige Rolle. «Es ist wichtig, dass man einen Sinn im Leben sieht. Zum Wort Lebenszweck gehört hier auch das Element des Dienens. Du tust es nicht nur für dich selbst.»
Ich werde nicht zur Adventistin konvertieren, doch ich habe viel mitgenommen. Etwa, einen Tag wirklich frei zu machen. Einige vegetarische Rezepte. Und anderen zu helfen.
Beim Anflug mit dem Flugzeug scheint Ikaria wie ein langestrecktes, schmales Bergmassiv: 40 Kilometer lang, nicht mehr als acht Kilometer breit, gut eintausend Meter ziemlich steil abfallend über Meer. Damit ist klar: Ikaria ist keine liebliche Mittelmeerinsel, sondern ein ziemlich herbes Gebirge in der östlichen Ägäis, das mit seiner Beschaffenheit die Lebensweise der Menschen tief prägt. Sie müssen laufen, steigen und dem Berg jeden Meter landwirtschaftlicher Anbaufläche mit dem Bau von Terrassen abtrotzen. Kein Wunder, dass es im steilen Gelände zwischen Oliven und Wein vor allem Ziegen und keine Schafe oder Rinder gibt.
Dieses herbe Leben mit der Natur, so wird mir immer wieder betont, sei der Schlüssel für das lange Leben in dieser «Blue Zone». Dieser Name wird übrigens oft gebraucht und anfangs habe ich das Gefühl, als ob Ikaria mit diesem Label gerne Werbung macht. Überall lese ich von Yoga und Seminaren über bewusstes Leben, welche die lebensverlängernde Küche der «Blue Zone» anpreisen wollen.
Gerade in den Orten an der Küste scheint mir das wie Geschäftemacherei. Ikaria pflegt ein Image als Hippie- und Aussteigerinsel.
«Viele denken: in Ikaria wird nur geschlafen und gefeiert – mit diesem Vorurteil möchte ich gerne aufräumen. Das Leben gerade der älteren Generation war sehr einfach, hart und auch entbehrungsreich». Das sagt Thea Parikos, US-Amerikanerin mit familiären Wurzeln auf Ikaria. Sie will die Lebensart auf der Insel nicht nur anderen Griechisch-Stämmigen aus der ganzen Welt näherbringen. Die Besitzerin einer Taverne mit Fremdenzimmern hat auch das Forscherteam um Dan Buettner und Michel Poulain beherbergt, welches den Begriff «Blue Zone» und dessen geographische Bedeutung überhaupt erst bekannt gemacht hat.