Der Tag im Jugenddorf beginnt um sieben Uhr morgens. In der Kälte des Luzerner Mittellands treffe ich Ben (17) und Seya (18) beim obligatorischen Frühstück. Hier müssen sie teilnehmen, auch wenn sie nichts essen möchten – es geht los mit den Regeln.
Die beiden wirken zurückhaltend, reden nur zögerlich über ihre Vergangenheit. Verständlich, wenn man bedenkt, dass viele ihrer Geschichten von Drogenkonsum und Absturz handeln. «Früher habe ich einfach nichts gemacht», sagt Ben nüchtern.
Im Jugenddorf Bad Knutwil leben rund 40 junge Männer – nicht freiwillig, sondern im Rahmen zivil- oder strafrechtlicher Massnahmen. Viele von ihnen haben mit Drogen, Gewalt oder der Perspektivlosigkeit des Erwachsenwerdens zu kämpfen.
Man denkt nicht an die Zukunft, man lebt einfach vor sich hin.
Hier erhalten sie Struktur, eine klare Tagesroutine und die Möglichkeit, ihr Leben neu auszurichten. Dass das in der Vergangenheit gefehlt hat, merke ich im Gespräch mit Seya: «Man denkt nicht an die Zukunft, man lebt einfach vor sich hin», so beschreibt er sein Leben vor dem Jugenddorf.
Trotz der schweren Themen ist das Jugenddorf kein Ort der Tristesse. Die ruhige Umgebung und die geordnete Tagesstruktur bieten einen klaren Rahmen. Die Jugendlichen, die hier leben, scheinen gut gelaunt zu sein und gut miteinander auszukommen. Dennoch wird rasch klar: Romantisieren lässt sich dieser Ort nicht. Kaum angekommen, erzählt mir ein anderer Jugendlicher offen von seiner Drogensucht. Es ist der erste von mehreren Momenten, die nachdenklich stimmen.
Drogenkriminalität unter Jugendlichen rückläufig
Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) nimmt die Zahl der jugendstrafrechtlichen Urteile in der Schweiz seit 2020 wieder zu. Im Jahr 2023 wurden 23'080 Urteile gegen Jugendliche ausgesprochen. Dies entspricht einer Zunahme von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ein Viertel der straffälligen Jugendlichen war zwischen 10 und 14 Jahre alt und es wurden dreimal so viele männliche wie weibliche Jugendliche verurteilt. Über die Hälfte besitzt die Schweizer Staatszugehörigkeit.
Auffällig ist jedoch: Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz gehen zurück. In den vergangenen neun Jahren ist die Zahl der Urteile im Bereich Drogenhandel und -konsum um 55.4 Prozent gesunken.
Im Jugenddorf ist das Thema dennoch präsent. Viele Jugendliche berichten von Erfahrungen mit Cannabis oder anderen Substanzen – häufig verbunden mit Orientierungslosigkeit und problematischen Freundeskreisen.
Es tut gut, am Ende des Tages zu sehen, was man mit den eigenen Händen erschaffen hat.
Beim Mittagessen kommen Ben und Seya schliesslich ins Gespräch. Beide absolvieren im Jugenddorf eine Schreinerlehre – und entdecken darin neue Perspektiven: «Es tut gut, am Ende des Tages zu sehen, was man mit den eigenen Händen erschaffen hat», sagt Ben zu mir.
Der Weg dorthin war jedoch kein einfacher: Der Umzug ins Jugenddorf bedeutete den Bruch mit dem gewohnten Umfeld – mit Freunden, der Familie, dem Alltag. «Manchmal denkt man schon darüber nach, einfach abzuhauen», sagt Seya. Doch heute bleibt er freiwillig – weil er seine Lehre hier beenden möchte.
Wer entscheidet über eine Platzierung im Jugenddorf?
In der Schweiz gibt es verschiedene Wege, die zu einer ausserfamiliären Unterbringung führen. Häufig ist es die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), die eingreift, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Auch im Rahmen des Jugendstrafrechts kann eine stationäre Platzierung angeordnet werden.
In anderen Fällen erfolgt sie auf private Initiative – etwa bei Angehörigen. Wie viele Jugendliche schweizweit ausserhalb ihrer Familie leben, ist nicht genau erfasst. Für viele jedoch ist das Jugenddorf Bad Knutwil eine reale Chance, in einem stabilen Umfeld einen Neuanfang zu wagen.
Für viele Jugendliche ist die frühe Verantwortung eine grosse Belastung. «Mit 16 Jahren musst du schon wissen, was du später machen willst», sagt Seya. «Und plötzlich trägst du die ganze Verantwortung für dein Leben», ergänzt Ben.
Aussagen, die nachhallen – auch bei mir. Denn auch ich kannte dieses Gefühl. Mit 18 Jahren hatte ich selbst keinen Plan, habe viel konsumiert, fühlte mich verloren. Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik brachte damals die Wende. Vielleicht ist das der Grund, weshalb mich die Geschichten dieser Jugendlichen besonders berühren.
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Bild 1 von 4. «Es ist wichtig, eine Ausbildung zu machen»: Ben und Seya in der Schreinerei im Jugenddorf – hier absolvieren die beiden gemeinsam ihre Lehre. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 4. Im Gespräch mit Impact-Host Livio Carlin taut Jugenddorfbewohner Seya langsam auf. Er erzählt, dass er in der Schule nicht mitgekommen sei und dass die Lehrer sich eher auf die besseren Schüler konzentriert hätten. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 4. Am Freitag dürfen die Jugendlichen ihr Sackgeld beziehen: Die Schüler bekommen jeden Monat zwischen 150 und 200 Franken. Lernende wie Ben und Seya erhalten ihren Lehrlingslohn. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 4. Ein Blick in Seyas Zimmer im Jugenddorf. Jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer – ein wichtiger Rückzugsort für die Jugendlichen. Bildquelle: SRF.
Bevor die Jugendlichen ins Wochenende entlassen werden, steht noch ein letzter Programmpunkt an: Das Zimmer muss aufgeräumt, geputzt und kontrolliert werden.
Sozialpädagogin Sara Krähenbühl nimmt ihre Aufgabe ernst. «Auch der Schrank wird kontrolliert», sagt sie. «Dort haben wir schon Essensreste gefunden, die übers Wochenende angefangen haben zu faulen.» Erst, wenn alles in Ordnung ist, dürfen die Jugendlichen zum Bahnhof Sursee, wo sie die Heimreise antreten – meist zur Familie, manchmal zu Freunden.
Zwischen Isolation und Neuanfang
Das Jugenddorf liegt abgeschieden – und genau diese Abgeschiedenheit scheint Teil des Konzepts zu sein. Weg von der Hektik der Städte, weg von alten Mustern, hin zu neuer Stabilität. Trotz der Strenge bleibt der Wunsch nach Normalität.
Am Ende meines Besuchs merke ich: Die Gedanken der Jugendlichen sind längst beim Wochenende – und vielleicht ist das auch gut so. Nach einer Woche voller Regeln und ohne Freunde dürfen sie jetzt ein paar Stunden Normalität und jugendliche Leichtigkeit geniessen.