Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland so viele rechtsextreme Straftaten wie noch nie. Allein bis Ende November wurden fast 34'000 Delikte gezählt – 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Extremismusexperte ordnet die brisanten Zahlen ein.
SRF News: Wie erklären Sie sich diesen Rekord?
Dirk Baier: Ich sehe zwei Gründe für diese hohen Zahlen. Der erste Grund ist, dass es in bestimmten Regionen Deutschlands fast schon zum guten Ton gehört, zu zeigen, dass man rechtsextrem denkt, bestimmte Inhalte zu posten, Bilder zu posten, Symbole zu posten.
Zweitens, denke ich, haben wir es auch mit einer Aufhellung des Dunkelfeldes zu tun. In den letzten Monaten sind rechtsextremistische Umtriebe zum Beispiel von Seiten der AfD öffentlich geworden. Und jetzt schaut man genauer hin. Das machen staatliche Organe genauso wie die Zivilbevölkerung.
Den grössten Teil der Straftaten machen die sogenannten Propagandadelikte aus. Was versteht man darunter?
Hier geht es um die Verbreitung von Inhalten verbotener Parteien oder Vereine. Meistens geht es darum, dass zum Beispiel Bilder, Symbole oder Parolen aus dem Nationalsozialismus, von der NSDAP verbreitet werden. Das ist in Deutschland strafbar.
Über 1000 Gewalttaten – das ist dramatisch viel im Vergleich zur Schweiz, wo wir höchstens einstellige Zahlen rechtsextremer Gewalttaten pro Jahr gewohnt sind.
Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?
Sicherlich eine sehr grosse. Während es früher eher so war, dass solche Dinge zum Teil in rechtsextremen Zeitschriften verbreitet wurden, geht das heute viel schneller und viel breiter über die sozialen Medien. Gleichzeitig ist es auch so, dass es oft unentdeckt bleibt, weil man auf bestimmten Plattformen, Telegram zum Beispiel, relativ unbehelligt agieren kann.
Die Polizei verzeichnete 1136 Gewaltdelikte, das sind 134 weniger als im Vorjahr. Wie interpretieren Sie diesen Rückgang?
Wir müssen noch abwarten, da die Zahlen noch nicht vollständig sind. Der ganze Dezember fehlt noch. Ich gehe davon aus, dass die Zahl konstant bleibt und es keinen Rückgang geben wird.
Dennoch muss man sagen: Über 1000 Gewalttaten – das ist dramatisch viel im Vergleich zur Schweiz, wo wir höchstens einstellige Zahlen rechtsextremer Gewalttaten pro Jahr gewohnt sind. Da sieht man erst einmal, was in Deutschland überhaupt los ist, wie die politische Kultur derzeit ist, insbesondere auch in Ostdeutschland. Es werden Ängste unter der ausländischen Bevölkerung geschürt, und das ist für Deutschland sehr schlecht.
Die Zahlen wurden jetzt aufgrund einer Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag bekannt. Ist das auch ein Schachzug im Wahlkampf?
Das ist aus meiner Sicht nur vor dem Hintergrund der Wahlen zu verstehen, denn normalerweise könnte man noch zwei, drei Monate warten, bis man die endgültigen Zahlen hat. Hier geht es darum, vor der Wahl die Bevölkerung für die Gefahren zu sensibilisieren, die mit einem zu guten Wahlergebnis der AfD einhergehen könnten.
Ich glaube nur, dass das wenig erfolgreich sein wird, weil die Menschen, die Sympathien für die AfD haben, sich von solchen Zahlen nicht abschrecken lassen. Die werden das dann eher als politisch instrumentalisiert interpretieren.
Werden diese Zahlen in Deutschland etwas auslösen?
Die Zahlen werden erst einmal wieder sehr intensive Debatten auslösen. Ich glaube nur, dass am Ende nicht viel dabei herauskommen wird. Denn ganz schnell ist wieder ein Jahr vorbei, und dann haben wir wieder neue Zahlen. Es braucht jetzt gute Antworten der etablierten Parteien auf die drängenden Fragen. Hier ist in den letzten Jahren viel Vertrauen verloren gegangen. Und das muss zurückgewonnen werden.
Das Gespräch führte Reena Thelly.