Jeder fünfte befragte Expat hält die Schweizer Bevölkerung im Allgemeinen für unfreundlich und mehr als die Hälfte der Expats hierzulande findet es schwierig, Freundschaften mit Einheimischen zu schliessen. Fast jeder Vierte fühlt sich zudem in der Schweiz nicht willkommen. Dies zeigt der «Expat Insider 2023»-Report, an welchem jährlich 12'000 Expats aus 53 Ländern teilnehmen – und bei dem die Schweiz in der Kategorie «Ease Of Settling In» jedes Jahr in den hinteren Rängen landet.
Ob die Schweizer Bevölkerung tatsächlich so verschlossen ist, was andere Kulturen besser machen und wie sich Menschen in anderen Ländern ansprechen, zeigen die Geschichten der SRF-Korrespondentinnen und Korrespondenten aus der Schweiz (Platz 47), Mexiko (1), Schweden (46), Deutschland (50), USA (24) und Grossbritannien (24).
Sprich mich an! Geschichten aus sechs Ländern
Warum ist es in der Schweiz so schwierig, mit neuen Menschen in Kontakt zu kommen? Ich starte eine Umfrage am Weihnachtsmarkt in Zürich. «Ich glaube, wir sind sehr auf uns selber fokussiert», sagt die erste Frau, die bereit ist, mir etwas ins Mikrofon zu sagen. «Wir haben so unsere kleinen Grüppchen, unsere Familien, unsere Communities.»
Ich glaube, wir sind sehr auf uns selber fokussiert.
Auch die zweite Befragte bestätigt das: «Fängt man hier an mit jemandem zu reden, merkst du, wie komische Blicke kommen.» Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine fremde Person angesprochen hat – ausser, wenn sie jemanden nach dem Weg fragen will. Sie findet das eigentlich schade. «Ich würde schon öfter Leute ansprechen, wenn sich das so ergeben würde, wenn es akzeptabler wäre.»
Gesättigter Freundeskreis
«Viele Schweizerinnen und Schweizer haben einen gesättigten Freundeskreis», sagt die Expat-Psychologin Carolyn Jost aus Vevey. «Sie sind seit der Primarschule mit den gleichen Leuten zusammen» – und hätten oft gar nicht das Bedürfnis, ihren Freundeskreis zu erweitern. Darunter litten viele Expats, die in die Schweiz kommen. Viele von ihnen sagen gemäss Jost, hier sei es besonders schwierig, neue Kontakte zu knüpfen.
Tupperware im Briefkasten
Das erlebt auch die Anwältin Sumaya, 40, aus Bangladesch so. Die alleinerziehende Mutter kam vor zwei Jahren nach Basel, um bei einem internationalen Pharmakonzern eine leitende Funktion zu übernehmen. Schweizer Bekannte hat sie bis heute keine. Doch das liege wohl an ihrer introvertierten Art, sagt sie.
Einige Versuche hat Sumaya dennoch unternommen, um mit ihren Nachbarn in Kontakt zu kommen. An einem muslimischen Feiertag buk sie Süssigkeiten und schenkte diese ihren Nachbarn. «Ich habe gehofft, dass sie mir die leeren Tupperwares zurückbringen – und dass ich sie dann auf einen Tee einladen kann.» Die Tupperwares fand sie gereinigt in ihrem Briefkasten wieder – mit einem Dankesschreiben.
In der Schweiz respektiert man deine Privatsphäre.
«In der Schweiz respektiert man deine Privatsphäre.» Als introvertierte Person schätze sie das, aber es mache es halt nicht einfach, neue Leute kennenzulernen.
Einfacher als in Italien
Zurück auf dem Weihnachtsmarkt in Zürich. Ich treffe zwei Italiener, die das alles ganz anders sehen. Hier in der Schweiz sei es sogar einfacher, Fremde anzusprechen als in Italien, finden beide. Wenn man selbst offen sei und direkt auf andere zugehe, dann reagierten die Leute meist sehr freundlich. Wichtig sei es allerdings, die Sprache zu sprechen – und sich nicht mit zu vielen Freunden zu umgeben, die aus demselben Land kommen wie man selbst. Dann klappe es – auch in der Schweiz.
So ganz genau weiss niemand, wie viele Menschen in Mexiko City leben. Die Statistikbehörden gehen von 17.5 Millionen Menschen in der Metropolenregion aus. Umgeben von Bergen, darunter der rauchende Vulkan Popocatépetl, liegt das gigantische Meer von Häusern auf einer Hochebene.
Auf den ersten Blick anonym, bietet die Stadt dennoch Raum für Nähe und Interaktion, etwa beim Tanzen auf öffentlichen Plätzen. Sich in einer fremden Stadt, in einem fremden Land zuhause zu fühlen, das ist nicht immer einfach. Die Menschen in Mexiko zeigen, wie sehr Herzlichkeit Neuankömmlingen helfen kann.
«Wir umarmen uns oft»
Im «Expat Insider»-Ranking schneidet Mexiko City in der Befragung insbesondere in den Punkten «Freundlichkeit» und «Freunde finden» immer wieder hervorragend ab. Der Neurobiologe Hugo Sánchez-Castillo von der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) wundert sich darüber nicht: «Wir umarmen uns oft. Das durchbricht Barrieren. Auf physiologischer Ebene werden durch diese Stimulation Endorphine freigesetzt, ein Gefühl des Wohlbefindens aktiviert. Wir fühlen uns beschützt, jemand kümmert sich um uns. Das steht im Gegensatz zu anderen Kulturen, in denen Respekt und Privatsphäre wichtige Faktoren sind.»
Zürcherin fand schnell Anschluss
Die Zürcherin Pamela König lebt seit zwei Jahren in Mexiko, als Yogalehrerin und Sängerin. Sie bestätigt: Der Neustart war herzlich, sie fand schnell Freunde: «Die Mexikaner sind sehr warm, herzlich und willkommenheissend. Sie schliessen einen schnell ins Herz und sie sind so stolz auf ihre Kultur, dass sie diese gerne teilen und nahebringen möchten.»
Sie sind so stolz auf ihre Kultur, dass sie diese gerne teilen und nahebringen möchten.
In der Weihnachtszeit verwandelt sich die schwedische Industriestadt Luleå in ein malerisches Wintermärchen. Gewappnet mit Thermounterwäsche und robusten Schuhen reise ich in die Stadt, die nur rund 110 Kilometer südlich vom Polarkreis liegt. So schön die Stimmung hier auch ist, einigen schlägt die Dunkelheit und Kälte auf das Gemüt. Viele fühlen sich einsam.
'Hej' symbolisiert Offenheit und Freundlichkeit.
Deshalb erblüht inmitten der eisigen Atmosphäre eine Kampagne, die nicht nur die Stadt, sondern auch die Herzen ihrer Bewohner erwärmen soll: die «Hej-Kampagne». Ich treffe die Initiantin Åsa Koski. Sie ruft die Bevölkerung auf, anderen Menschen «Hej» zu sagen, schwedisch für «Hallo» – ob auf der Strasse, in der Schule oder im Café. Die schlichte Botschaft von «Hej» symbolisiere Offenheit und Freundlichkeit, erzählt mir die 44-Jährige, während wir gemeinsam durch die verschneite Stadt spazieren. Die Kampagne strebt danach, zwischenmenschliche Brücken zu bauen und ein positives Miteinander in der Gemeinschaft zu fördern.
«Ein einfaches Hallo hilft dem Wohlbefinden»
Åsa Koski betont: «Seine Nachbarn zu grüssen mag trivial erscheinen, aber die Forschung zeigt, dass ein einfaches ‹Hej› zur Stärkung sozialer Bindungen beitragen kann, was sich wiederum positiv auf Gesundheit, Sicherheit und Wohlbefinden auswirkt.» Die «Hej-Kampagne» erweckt nicht nur lokal, sondern auch international grosses Interesse. Menschen weltweit lassen sich von der einfachen und dennoch wirkungsvollen Idee anziehen. Mir zeigt dies die stärkende Kraft der Gemeinschaft und dass das Bedürfnis, von seinen Mitmenschen wahrgenommen zu werden, ein globales ist.
«Drink doch eine met!» heisst es im Kölner Dialekt: «Trink doch ein Bier mit uns!» Wer im Kölner Brauhaus alleine herumsteht, kommt rasch in Kontakt mit anderen. Fremde Menschen anzusprechen gehört zum guten Ton hier im Rheinland, nicht nur im Brauhaus. Niemand soll alleine sein.
Dabei ist Deutschland nicht gerade für die Kontaktfreudigkeit seiner Bevölkerung bekannt. Doch Köln ist eine Ausnahme. Die herzliche Art der Menschen ist Teil der DNA. Sich mit Fremden zu unterhalten sei Teil des kölschen Lebensgefühls, erzählt mir Sandro Sobczinski, den ich im traditionellen Brauhaus Stüsser treffe.
Gespräch ohne Absichten
Eigentlich sei es doch ganz einfach, andere Menschen anzusprechen, meint Sandro: «Einfach eine lockere Frage, man muss gar nicht drüber nachdenken, was man sagen soll.» Im Grunde sei doch jeder Mensch froh, mit jemand anderem ins Gespräch zu kommen.
Nicht jede Kontaktaufnahme solle aus konkreten Absichten geschehen. Man plaudert um der Geselligkeit willen, ohne Hintergedanken. Aussenstehende behaupten, das sei oberflächlich, doch aus so mancher Kölner Brauhaus-Plauderei sei schon eine Freundschaft fürs Leben entstanden.
Ursachen in der Geschichte
Die Offenheit der Kölnerinnen und Kölner habe historische Gründe, erzählt mir Konrad Beikircher, ein bekannter Kabarettist und Diplom-Psychologe. «Durch Köln sind zwei, drei Jahrtausende lang alle Völkerschaften gezogen, von Norden, von Süden, von Westen, von Osten». Also hätten die Stadtbewohner schauen müssen, dass sie mit den Fremden irgendwie zurechtkamen. Man sei mit ihnen ins Gespräch gekommen, habe Handel betrieben. «Das macht dich weniger misstrauisch Fremden gegenüber.»
In Köln ist man stolz auf die Kontaktfreudigkeit der Menschen. Und nach vielen herzlichen Begegnungen frage ich mich, warum es anderswo – auch in der Schweiz – nicht ähnlich einfach sein sollte, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Denn das menschliche Bedürfnis danach ist doch überall das gleiche.
In wenigen Stunden empfängt Colleen Zale knapp 40 Gäste. Die meisten von ihnen kennt sie nicht. Sie dekoriert ihr Haus nach dem Motto des Krimis «Sommernacht». «Es macht Spass, sich schön anzuziehen, das Haus herzurichten und es mit anderen zu teilen», sagt sie.
Dass sie ihr Haus für Fremde öffnet, gehört zum Konzept. Es ist eine Tradition in diesem Vorort von New York. In ganz Pelham laden Bewohner ein zur sogenannten «Novel Night»: Es gibt rund zwei Dutzend Themenpartys, jeweils unter dem Motto eines Buches. Gastgeberinnen und Gäste werden zufällig zugeteilt. Die Novel Night ist eine Gelegenheit, neue Leute im Ort kennen zu lernen.
Smalltalk hat durchaus seinen Wert
Doch sind Partygespräche nicht oft oberflächlicher Smalltalk? Für Colleen hat Smalltalk durchaus einen Wert. «Ich glaube, Smalltalk ist wichtig. Man erfährt etwas Kleines über jemanden. Und nach und nach lernt man die Person besser kennen.» Sie habe an der letzten Novel Night Leute kennen gelernt, mit denen sie heute befreundet sei. Ihre Kollegin, die mit ihr den Abend organisiert, sagt: «Es läuft zu viel über Soziale Medien und das Handy. Es ist wichtig, echte Gespräche mit Leuten zu haben.»
Smalltalk ist wichtig. Man erfährt etwas Kleines über jemanden. Und nach und nach lernt man die Person besser kennen
Nicht selten gibt es in den USA Anlässe wie diese. Doch auch sonst kommt es mir so vor, dass die Menschen in den USA leichter ins Gespräch kommen als in der Schweiz. Und einen kleinen Schwatz mit Unbekannten durchaus schätzen. Wird Smalltalk vielleicht unterschätzt?
Ein Gespräch mit Fremden bereitet Freude
Mit Experimenten in Bussen, U-Bahn und im Park hat der Verhaltensforscher Nicholas Epley nachgewiesen, dass Menschen nach einem Schwatz mit Fremden glücklicher sind. «Unsere Daten zeigen, dass Leute unterschätzen, wie sehr ihnen ein Gespräch mit Fremden Freude macht», sagt er. Smalltalk habe eine Berechtigung. Weil wir Menschen eine zutiefst soziale Spezies sind, gibt das ein gutes Gefühl.
Viele kleine Glücksmomente machen ein glückliches Leben aus. Dennoch bleiben wir oft still. «Man kann es überwinden, indem man sich bewusst macht, dass man andere ansprechen kann», empfiehlt Epley. Ein kleines Kompliment gehe immer, um eine Konversation zu starten. Unsere Gegenüber sind interessierter an uns, als wir glauben, sagt er. «Aber wenn wir glauben, dass andere Leute kein Interesse haben, dann kann man einen Zug voller freundlichster Amerikaner oder Schweizer haben, die still dasitzen, weil sie zu Unrecht annehmen, dass niemand mit ihnen sprechen will.»
Elaine Woodbridge strahlt übers ganze Gesicht. Ihr Lächeln gefriert für einen kurzen Moment – bis das Blitzlicht des Fotoautomaten sie erlöst. Die 84-jährige ehemalige Spanischlehrerin posiert mit ihrer 50 Jahre jüngeren Begleiterin, Liz Woolley, für ein Erinnerungsfoto.
«And Smile...! Cheers!» Die Rentnerin und die Leiterin einer Kinderkrippe nehmen an einem Tee- und Kuchennachmittag in einem noblen Hotel an der Strandpromenade des südenglischen Meerkurortes Brighton teil. Organisiert worden ist der Anlass mit über 120 Personen von der Wohltätigkeitsstiftung «Together Co». Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Einsamkeit zu bekämpfen.
Auf Einsamkeits-Alarmzeichen reagiert
Elaine Woodbridge und Liz Woolley sind von der Stiftung zusammengeführt worden. Die beiden Frauen treffen sich seit dem Frühling jeden Dienstagnachmittag, trinken zusammen Tee und erzählen sich Schönes und Anstrengendes aus ihrem Alltag.«Es fühlt sich an, als würden wir uns seit eh und je kennen», sagt die Rentnerin freudestrahlend. «Liz ist eine wunderbare Frau.»
Einsamkeit ist eine schreckliche Sache.
Ihr Hausarzt hatte die Einsamkeits-Alarmzeichen der Rentnerin erkannt und sie auf das Hilfsangebot von «Together Co» hingewiesen, ihr eine Freundin zu vermitteln. «Einsamkeit ist eine schreckliche Sache», wird Elaine Woodbridge ernst. «Wenn man älter wird, verliert man Freunde. Sie sterben weg. Und plötzlich hat man fast keine Menschen mehr um sich.»
Mit Liz Woolley hat sie eine neue Freundin gefunden. Woolley: «Die Treffen sind auch für mich zu einem Höhepunkt der Woche geworden. Ich freue mich jedes Mal darauf. Die Gespräche mit Elaine tun mir gut.»
Einsamkeit ist eine Volkskrankheit in Grossbritannien
Rund drei Millionen Menschen leiden in Grossbritannien unter Einsamkeit. Das hat eine im Mai dieses Jahres publizierte Untersuchung des Einsamkeitsministeriums ergeben, welches 2018 von der konservativen Regierung ins Leben gerufen worden ist. Das Ministerium verfolgt das Ziel, Einsamkeit zurückzudrängen. Und das geht nur, wenn das Problem klar beziffert werden kann – und nicht länger ein Tabu ist.
Gemäss der Studie sind die über 50-Jährigen am stärksten betroffen: Ein Viertel von ihnen gibt an, sich oft bis immer einsam zu fühlen. Doch auch die unter 30-Jährigen leiden überdurchschnittlich oft: Jede sechste Person fühlt sich oft bis immer einsam. Das will das Einsamkeitsministerium verbessern und hat in den letzten fünf Jahren umgerechnet 90 Millionen Franken dafür ausgegeben. Dieses Geld ging im Wesentlichen an Hilfswerke wie «Together Co», die einsamen Menschen aus ihrer Isolation befreien – indem sie Freundschaften anbahnen oder Unterhaltungsnachmittage mit Live-Musik, Tee und Süssgebäck organisieren, damit hilfsbedürftige Menschen jeden Alters wieder Anschluss finden können an die Gesellschaft.