2019 war das Jahr der Frauen. Namentlich der nationale Frauenstreik im Juni hat die Anliegen der Frauenrechtsbewegung ins kollektive Bewusstsein gerückt: Hundertausende Demonstrierende standen ein für Lohngleichheit, gegen sexuelle Diskriminierung und für die Anerkennung von Care-Arbeit.
Andrea Maihofer, eine Pionierin der Geschlechterforschung in der Schweiz, hat den Frauenstreik-Tag in lebhafter Erinnerung. «Das war ein eindrucksvolles, grossartiges Ereignis.» Sie sei überwältigt gewesen von den vielen Menschen; davon, dass an einem generationenübergreifenden Anlass Grossmütter und Enkelinnen zusammen auf die Strasse gegangen seien. Aber, betont Maihofer, man habe an diesem Tag auch gesehen, dass beim Frauenstreik nicht nur Frauenanliegen im engeren Sinne thematisiert worden seien, sondern auch Homophobie, Transphobie und Rassismus - also verschiedene Formen der Diskriminierung, die indes alle miteinander verwandt seien.
Diese Formen der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts untersucht Maihofer seit vielen Jahren. Seit 2001 ist sie Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Basel, leitet dort das Zentrum «Gender Studies». Sie gehöre zu jener Generation von Wissenschaftlerinnen, welche die Entwicklung der Frauenforschung hin zur Geschlechterforschung vorangetrieben haben. «Es ist ein unglaublich breites Gebiet, dass de facto jeden einzelnen Menschen betrifft.»
In ihrer jahrelangen Tätigkeit habe sie zunehmend erkannt, wie tiefgreifend Geschlechterfragen unsere Gesellschaft prägten. «Unsere Sozialisation teilt praktisch jeden Lebensbereich in weiblich oder männlich ein, von Arbeiten im Haushalt, über Berufsgruppen bis hin zu gewissen Charaktereigenschaften», sagt Maihofer. «Und von diesen Einteilungen und den daraus folgenden Diskriminierungen sind nicht nur Frauen betroffen, sondern alle - auch Männer leben ja in dieser noch immer vorherrschenden patriarchalen Gesellschaft, und längst nicht alle sind darin glücklich.»
An «Gender Studies» scheiden sich die Geister
Dass ihr Forschungsgebiet nicht überall auf Anklang stösst und einige schon nur bei der Bezeichnung «Gender Studies» die Nase rümpfen, dessen ist sich Maihofer bewusst: «Es gibt eine Art Anti-Genderismus, wie es früher einen Anti-Feminismus gab». Dies sei jedoch nicht erstaunlich, kritisiere Geschlechterforschung doch regelmässig die gesellschaftliche Ordnung und problematisiere bestimmte Formen von «Männlichkeit». «Dass dies nicht alle hören wollen, ist keine Überraschung», sagt Maihofer.
Dass das Jahr 2019 als «Frauenjahr» angesehen werden kann - nebst dem Frauenstreik wurden auch die nationalen Parlamentswahlen zu «Frauenwahlen» auserkoren - deutet Maihofer doppelt. Einerseits als Aufschrei, dass der Wandel hin zur Gleichberechtigung einfach zu langsam voranschreite und manche sich schneller Veränderungen wünschten. Andererseits sei es auch ein Zeichen dafür, dass das Thema viel präsenter sei und auch in einem breiteren Spektrum diskutiert werde.
Dass nun ihr letztes Jahr als Professorin begonnen hat - nach dem Frühjahrssemester 2020 wird Maihofer emeritiert - löst bei ihr Wehmut aus. «Ich mache diese Arbeit wirklich sehr, sehr gerne», sagt Maihofer. Gleichwohl ist sie zuversichtlich, dass sie auch in Zukunft noch Aufgaben in ihrem Fachgebiet finden werde.