In einem deutschen Labor liegen junge Hunde in ihrem eigenen Blut und krepieren jämmerlich. Ihnen wurde im Auftrag der Schweizer Biotechfirma Inthera zu Forschungszwecken eine Testsubstanz verabreicht.
Der «Kassensturz»-Beitrag über die unwürdigen Zustände löste beim Publikum Entsetzen und Wut aus. Doch wie sieht es in der Schweiz mit Tierversuchen aus? Im Interview mit dem Konsumentenmagazin «Espresso» von Radio SRF 1 gibt Juristin und Tierschützerin Vanessa Gerritsen zu verstehen, dass auch hier einiges im Argen liegt.
SRF: Tierversuche werden hier nach klaren Kriterien in die Schweregrade 0 bis 3 eingeteilt. Trotzdem gibt es regelmässig Streitfälle. Warum?
Vanessa Gerritsen: Zum einen ist es schwierig zu beurteilen, was ein Tier tatsächlich empfindet, was es als Belastung erlebt. Zum anderen kann der Kriterienkatalog nie alle Fälle abdecken.
Geht es bei den festgelegten Kriterien nur um den Versuch selbst oder auch um die Haltung der Tiere?
Die Tierhaltung wird völlig ausser Acht gelassen. Dabei hat diese einen grossen Einfluss auf die Belastung des Tieres. Mäuse zum Beispiel leben in sehr engen und strukturlosen Verhältnissen und zeigen daher häufig Verhaltensstörungen. Die Haltung wäre ein wichtiger Bestandteil des Katalogs, genau wie das Handling der Tiere, das häufig Stress auslöst.
Wer bestimmt den Schweregrad eines Versuches?
Der Forscher reicht einen Antrag ein, beschreibt darin seinen Versuch und gibt eine Einschätzung des Schweregrades ab. Das macht insofern Sinn, weil er weiss, was später genau gemacht wird. Aber: In der Praxis zeigt sich, dass die Beurteilung des Forschers häufig unter jener der Bewilligungsbehörde liegt.
Stufen die Forscher den Schweregrad absichtlich tiefer ein?
Man muss berücksichtigen, dass die Forscher in der Regel nicht Tierärzte oder Ethologen sind. Daher ist es für sie schwierig, die Belastung für ein Tier korrekt beurteilen zu können.
Das Gesetz befürwortet Tierversuche nur, wenn sie unerlässlich sind. Trotzdem werden auch unnötige Tierversuche bewilligt und durchgeführt, sagen Sie...
Das ist so. In der Wissenschaft herrscht häufig die Ansicht, dass jede Forschung wichtig ist, weil sie neue Erkenntnisse bringt. Das ist aber nicht Sinn und Zweck. Das Gesetz verlangt, dass ein Tierversuch unerlässlich sein muss für das Weiterkommen unserer Gesellschaft. Das kann sein bei der Entwicklung einer Therapie für eine Krankheit, die man bisher nicht behandeln konnte. Die Forschung versteht «unerlässlich» aber oft so, dass ein Versuch unerlässlich ist, wenn gerade keine Ersatzmethode zur Verfügung steht. Das ist falsch.
In der Schweiz gibt es also unnötige Tierversuche und Unsicherheiten bei den Bewilligungskriterien. Welche Lösung schlagen Sie vor?
Die gesetzlichen Vorgaben müssen endlich konsequent angewendet werden. Das bedingt aber vermutlich eine Änderung der Kommissions-Zusammensetzung. Im Moment besteht diese nämlich in den meisten Kantonen hauptsächlich aus Forschungsvertretern. Des Weiteren müssten Hochschulen und Forschungsinstitute Ablehnungen von Anträgen aus ethischen Überlegungen akzeptieren. Heute greifen sie häufig zu Rechtsmitteln oder politischen Instrumenten, um ihr Forschungsprojekt durchzubringen.
Das Gespräch führte Stefan Wüthrich.