Zum ersten Mal seit Januar hat Israel diese Woche wieder über 10'000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet. Und dies bei einer Bevölkerungszahl, die ungefähr gleich ist wie diejenige der Schweiz. Das könnte Konsequenzen haben: Die Regierung droht damit, die Freiheiten wieder einzuschränken. SRF-Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner schildert, wie die israelische Bevölkerung das Corona-Management ihres Landes wahrnimmt.
SRF News: In Israel wird von einem erneuten Lockdown gesprochen – dies trotz einer der höchsten Impfraten der Welt. Was ist da passiert?
Susanne Brunner: Das fragen sich die Israelis auch. Fast sechs Millionen von ihnen wurden geimpft. Das sind fast 80 Prozent aller, die sogenannt «impffähig» sind – die also zum Beispiel nicht zu jung sind, um geimpft werden zu können. Man hat ihnen gesagt: Impft euch, dann wird das Leben wieder normal. Vor einigen Monaten sah das Leben auch schon fast wieder normal aus. Nicht einmal mehr Masken waren Pflicht. Nun droht die Regierung mit einem neuen Lockdown und bringt viele Restriktionen zurück. Viele fragen sich deshalb: «Erst noch waren wir das Impfvorbild der Welt – nun haben wir wieder Tausende von Ansteckungen. Was ist da los?»
Wie reagieren die Israelis auf diese neuen Ankündigungen?
Mit Frustration und Überdruss. Einen vierten Lockdown will niemand und es wird auch heftig darüber diskutiert. Die Regierung macht Druck, dass die Leute sich zum dritten Mal in weniger als einem Jahr impfen lassen. Einige fragen sich: «Nützt das jetzt uns oder der Pharmaindustrie?» Ich habe mit Menschen diskutiert, die finden: «Wir sind Versuchskaninchen.»
Vor einigen Monaten sah das Leben auch schon fast wieder normal aus: Nicht einmal mehr Masken waren Pflicht.
Und wieder andere geben den Ungeimpften die Schuld. Mehr als eine Million Menschen sind das in Israel. Wobei man sagen muss: Viele von ihnen hat die Impfkampagne schlicht nicht erreicht. Das sind Leute aus ärmeren Gesellschaftsschichten, ausländische Gastarbeiter zum Beispiel, oder Bevölkerungsgruppen, die anfangs von der Impfkampagne vernachlässigt wurden. Also arabische Israelis, palästinensische Bewohner Jerusalems, die weder ein israelisches Bürgerrecht noch eine palästinensische Identitätskarte haben. Auch in der jüdisch-ultraorthodoxen Gemeinschaft – das sind rund eine Million Menschen – ist die Impfquote noch tief. Erst etwas mehr als 300'000 haben eine erste Impfdosis bekommen, also rund ein Drittel.
Lockerungen sind vorerst nicht in Sicht. Tragen diese Einschränkungen auch zum Frust bei?
Ja. Die Einreisebestimmungen wurden vor einigen Tagen sogar wieder verschärft, sogar für vollständig Geimpfte. Nur aus wenigen Ländern darf man nach Israel ohne Quarantäne einreisen. Viele haben ihre Kinder, Eltern, Grosseltern seit bald zwei Jahren nicht mehr gesehen, denn Israel ist ein klassisches Einwandererland. Natürlich frustriert das – wer könnte das nicht nachvollziehen? Viele religiöse Feste, an denen sich die Familie trifft, fanden nicht statt. Und nun droht auch Sukkot – das Laubhüttenfest im September – quasi auszufallen. Nicht nur, wenn ein Lockdown kommen sollte, sondern auch, weil Verwandte und Familie nicht zueinander reisen können – oder nur, wenn sie Quarantäne in Kauf nehmen, auch wenn sie geimpft sind.
Es gibt keine Touristen derzeit und damit auch kein Einkommen für viele.
Der Frust ist natürlich auch gross für die, die vom Tourismus leben. Die Altstadt von Jerusalem zum Beispiel ist fast menschenleer. Es gibt keine Touristen derzeit und damit auch kein Einkommen für viele, und das seit Beginn der Pandemie.
Das Gespräch führte Raphael Günther.