In der Kirche San Bernardino schwebt gerade Jesus in die Höhe – gut befestigt an einem Seil. Ein Restaurator erklärt, was hier vor sich geht: «Mit einem Flaschenzug ziehen sie Jesus wieder hinauf in jene Nische, wo er bis vor zehn Jahren stand.»
Wir bauten zuerst eine Kirche der Altstadt wieder auf, um wenigstens einen Ort für Hochzeiten oder für Beerdigungen zu haben.
Nach dem Erdbeben holte man die Jesus-Statue herunter, weil die Kuppel darüber und viele andere Teile der Kirche schwer beschädigt worden waren. Von all diesen Schäden sieht man heute rein gar nichts mehr. Nach Jahren aufwändiger Restaurierung erstrahlt San Bernardino wieder im alten, barocken Glanz.
San Bernardino ist nur ein Beispiel unter vielen: An allen Ecken und Enden der Stadt wird gehämmert, gefräst, gesägt. Staub liegt in der Luft. Und trotzdem sind aus etwa der Hälfte der engen Gassen und Strassen die Bauarbeiter bereits wieder abgezogen. Viele Häuser sind restauriert oder wiederaufgebaut.
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Bild 1 von 3. Santa Maria di Collemaggio ist eine der schönsten Kirchen von L’Aquila. Sie wurde im Lauf der Jahrhunderte von diversen schweren Beben beschädigt, auch von jenem vom 6. April 2009. Wie San Bernardino ist auch diese Kirche unterdessen wieder restauriert und offen für Besichtigungen. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
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Bild 2 von 3. Die Kirche Santa Maria del Suffraggio am Hauptplatz der Stadt wurde unter anderem mit Geldern des französischen Staates restauriert. Bildquelle: Imago.
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Bild 3 von 3. Auch die Kirche San Giuseppe Artigiano wurde beim Beben vom 6. April 2009 schwer beschädigt – samt Bildern und Altären. Der zeitgenössische Künstler Giovanni Gasparro hat neue Altarbilder gemalt. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
Viele Dörfer sind noch immer unbewohnt
Vor allem ausserhalb des Stadtzentrums und in den umliegenden Gemeinden sind die Spuren des schweren Bebens aber noch immer deutlich sichtbar. Es gibt kleine Gemeinden im Umland, in denen noch immer keiner wohnt. Und der Wiederaufbau staatlicher Gebäude, etwa der Schulen, kommt überall kaum vom Fleck.
Die Schulen sehen aus wie vor zehn Jahren. Nicht einmal die Trümmer hat man weggeräumt.
«Die Kinder L'Aquilas werden noch immer vorwiegend in Provisorien unterrichtet», klagt Silvia Frezza, sie ist Lehrerin im Vorort Pagliare di Sassa. «Die Schulen sehen aus wie vor zehn Jahren. Nichts ist passiert, nicht einmal die Trümmer hat man weggeräumt», sagt Frezza. Für sie und ihre Schüler heisst das: Unterricht im Pavillon, unter einem Wellblechdach. Doch dieses Dach sei nicht dicht. Im Sommer sei es heiss, im Winter eiskalt.
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Bild 1 von 2. Der Wiederaufbau vieler Schulen steckt wegen bürokratischer Hindernissen und Leerläufe fest. Die meisten Schüler werden weiterhin in Provisorien unterrichtet. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
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Bild 2 von 2. So wie in der Mittelschule Giuseppe Mazzini am Rande der Altstadt von L’Aquila. Seit zehn Jahren werden die Schüler hier aufgefordert, brav zu sein («fate li bravi»). Bildquelle: SRF/Franco Battel.
Warum nur haben viele Private ihre Häuser längst saniert, der Staat aber nicht? Die Lehrerin antwortet auf diese Frage, dass es nicht am fehlenden Geld liege. Schuld sei vielmehr der Staat, der unfähig sei, das zur Verfügung gestellte Geld auszugeben.
Der Wiederaufbau kostet 11 Milliarden Euro
Salvatore Provenzano versteht diese Kritik und sagt trotzdem, dass der Wiederaufbau übers Ganze gesehen auf gutem Weg sei. Denn der italienische Staat sei in grosszügiger Weise für die meisten Erdbebenschäden aufgekommen.
«Auch darum ist in der Stadt die Sanierung der privaten Gebäude nahezu abgeschlossen», sagt Provenzano, der weitere, sehr positive Fakten präsentiert: Von den rund 11 Milliarden Euro, die der gesamte Wiederaufbau koste, seien rund 7 Milliarden bereits verbaut.
Und von den rund 80'000 Leuten, die nach dem Beben kein Dach mehr über dem Kopf hatten und Hilfe brauchten, lebten heute nur noch 8'000 in Provisorien.
Ausschreibungen hängen in der Bürokratie fest
Trotzdem: Auch der Leiter des Büros für den Wiederaufbau gibt zu, dass es bei der Sanierung staatlicher Gebäude hapere: «Dem Staat fehlt das Personal, um die aufwändigen Ausschreibungsverfahren zügig abzuwickeln.»
Auch in Italien müssen alle staatlichen Bauaufträge öffentlich ausgeschrieben werden, um Korruption und Vetternwirtschaft möglichst zu verhindern. In Italien führt das zu überaus komplizierten Verfahren, die wegen Personalmangels aber auch wegen möglicher Rekurse oft irgendwo steckenbleiben. Darum, so Provenzano, stünden diverse öffentliche Bauprojekte still, obschon das Geld eigentlich vorhanden wäre.
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Bild 1 von 5. Baukräne prägen bis heute das Bild der Stadt, auch wenn die Verantwortlichen reklamieren, einen Grossteil der privaten Gebäude saniert zu haben. Bildquelle: Imago.
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Bild 2 von 5. Abseits der wiederaufgebauten Strassenzüge wird noch immer gebaut, auch im Stadtzentrum sind viele Strassen weiterhin gesperrt – ein Grossteil des Lebens hat sich in die weniger stark betroffene Peripherie verlagert. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
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Bild 3 von 5. Baulärm sowie ausbleibendes öffentliches Leben halten viele Menschen davon ab, ins Stadtzentrum von L'Aquila zurückzukehren. Bildquelle: Imago.
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Bild 4 von 5. Ein eingestürztes Wohnhaus im Zentrum der Stadt. Nicht einmal die Trümmer wurden bisher weggeräumt. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
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Bild 5 von 5. Noch bleibt viel zu tun. Ein Wohnhaus im Stadtzentrum mit massiven Erdbebenschäden. Die Besitzer warten weiter auf die Sanierung. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
Neben der Bürokratie habe die Fokussierung aufs Zentrum den Wiederaufbau der Peripherie verzögert, bestätigt auch Provenzano und er erklärt warum: «Wir wollten das soziale Leben zumindest im Zentrum schnell wieder in Gang bringen.»
Der Beamte nennt dafür ein konkretes Beispiel: «Wir bauten zuerst eine Kirche der Altstadt wieder auf, um wenigstens einen Ort für Hochzeiten oder für Beerdigungen zu haben.» Doch nun gehe es auch mit dem Wiederaufbau an der Peripherie vorwärts.
Viele sind gegangen – für immer
Dass das Zentrum lange Priorität hatte, sieht man. Und trotzdem fehlt es selbst im Herzen der Altstadt noch immer an vielem: Es gibt noch immer kein Postbüro, keinen Gemüsemarkt und nur eine Apotheke. Immerhin haben unterdessen ein paar Restaurants und Cafés wiedereröffnet. In einem sitzt Antonietta Centofanti und trinkt Tee: «Es ist noch immer mühsam in l'Aquila zu leben», sagt die Besitzerin eines Hauses im Stadtzentrum. «Am Abend sind viele der Gassen wie ausgestorben.»
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Bild 1 von 3. Viele Palazzi erstrahlen wieder im altem Glanz. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
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Bild 2 von 3. Ein Palazzo am zentralen Corso Vittorio Emanuele mitten in der Altstadt von L’Aquila. Der privaten Besitzern gehörende Teil des Gebäudes wurde seit dem Beben weitgehend saniert. Der dem Staat gehörende Teil ist noch immer ganz eingerüstet, der Wiederaufbau steckt wegen Rekursen gegen das Bauprojekt fest. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
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Bild 3 von 3. Noch keine Namen neben den Klingeln: Ein restaurierter Palast im Zentrum, in den noch niemand eingezogen ist. Bildquelle: SRF/Franco Battel.
Darum hätten einige der mutigen Geschäftsleute, die vor ein paar Monaten Läden eröffneten, bereits wieder aufgegeben. «Es fehlen die Kunden», sagt Centofanti, denn viele Bewohner hätten l'Aquila seit dem Beben verlassen – wohl für immer.
Tatsächlich: viele Häuser wurden dank grosszügiger staatlicher Unterstützung wiederaufgebaut, doch deren Besitzer leben längst anderswo. Und Mieter lassen sich wegen des Baulärms und der nach wie vor schwachen Infrastruktur kaum finden.
Und so sieht man frisch restaurierte Palazzi, an dessen Türklingeln keine Namen stehen. Nirgends hängt Wäsche zum Trocknen vor den Fenstern. Das Herz dieser Stadt beginnt erst ganz allmählich wieder zu schlagen.