Am 7. Oktober greift die extremistische Hamas aus dem Gazastreifen Israel an. Sie massakriert mehr als 1200 Israelis, entführt über 200. Noch am Tag des Terrors bombardiert Israel den Gazastreifen. Der Krieg tötet schon in den ersten Wochen Tausende von Palästinenserinnen und Palästinensern, ebenso israelische Soldaten und Geiseln und weitere Zivilpersonen. Raketen treffen Israel aus dem Gazastreifen, manche auch aus dem Libanon.
Ein solches Ausmass hat niemand erwartet.
«Ich spürte schon lange, dass die Situation einmal explodieren würde. Aber ein solches Ausmass hat niemand erwartet,» sagt die palästinensisch-israelische Schriftstellerin Fida Jiryis in einer Sprachnachricht aus einem Luftschutzraum in Fassuta.
Das katholische Dorf liegt ganz im Norden Israels, in den Bergen Galiläas. Bis nach Beirut wäre es mit dem Auto nur eine Stunde. Doch die beiden Länder sind verfeindet, die Grenze ist zu.
In der libanesischen Hauptstadt Beirut hat das Kindheitstrauma der heute 50-jährigen Schriftstellerin seinen Ursprung. Dieses holt sie zurzeit mit voller Wucht ein.
Ich sitze hier und erlebe wieder dieses Trauma, das sich seit meiner Kindheit ständig wiederholt.
Wie Zehntausende andere Israelis sucht sie seit Anfang Oktober mehrmals täglich in einem Luftschutzraum Zuflucht vor den Raketen militanter Palästinenser und ihrer Unterstützer. Einmal mehr sind diese im Krieg mit Israel. «Ich sitze hier und erlebe wieder dieses Trauma, das sich seit meiner Kindheit ständig wiederholt.»
Ein Familientrauma
Fida Jiryis war 10 Jahre alt, als ihre Mutter 1983 bei einem israelischen Bombenanschlag im Libanon umkam. Dieser galt der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO.
Nach der Staatsgründung Israels waren Tausende von Palästinenserinnen und Palästinensern in den Libanon geflüchtet. Ab Ende der 1960er-Jahre benutzte die PLO den Libanon als Basis für ihren Kampf gegen Israel. Fida Jiryis' Vater unterstützte den bewaffneten Widerstand: Er zog 1970 mit seiner Frau in den Libanon. Anfang der 1980er-Jahre marschierte Israel in den Libanon ein, um die PLO zu vertreiben. Seine Frau, Fidas Mutter, wurde in diesem Zusammenhang getötet. Für Fida Jiryis das bitterste Kapitel ihrer Familiengeschichte, wie sie im Sommer 2023 sagt.
«Das Trauma meiner Familie erfüllt mich mit Mitleid: Für meine Eltern und auch für uns Kinder, denn wir mussten ihre Entscheide ausbaden. Dafür gebe ich ihnen nicht die Schuld, ich verstehe meine Eltern ja auch. Aber ich wünschte mir so sehr, sie hätten anders entschieden.»
Zehn Jahre lang hat Fida Jiryis ihre Familiengeschichte aufgearbeitet, im Buch «Stranger in My Own Land». Sie führte dafür stundenlange Gespräche mit ihrem Vater und mit ihrem Onkel, stöberte in den Archiven.
«Ich begann, sie als Feinde wahrzunehmen»
Ihr Vater Sabri war bei der Staatsgründung Israels 1948 und dem ersten arabisch-israelischen Krieg zehn Jahre alt. Er erlebte, wie die Bevölkerung aus den Nachbardörfern verschwand. Nur mit viel Glück hätten die rund Tausend christlichen Einwohner Fassutas in ihrem Dorf bleiben können, erinnert sich der heute 85-Jährige.
«Im Frühling und Sommer 1949 wollten sie uns dreimal vertreiben. Einmal hatte die halbe Bevölkerung das Dorf bereits verlassen. Aber gut vernetzten Dorfbewohnern gelang es, uns wieder zurückzuholen und unsere Vertreibung zu verhindern.»
Nach ihrem Unabhängigkeitskrieg bauten jüdische Israelis ihr Land auf und unterwarfen palästinensische Israelis zunächst willkürlicher Militärherrschaft. Versprochen hatte Israels erster Premier, David Ben-Gurion, etwas anderes: Dass alle Bürgerinnen und Bürger Israels dieselben Rechte haben würden.
Ich verbrachte jahrelang keinen einzigen Tag in Freiheit!
Fida Jiryis' Vater Sabri durfte sein Dorf schon als Kind nicht mehr ohne Militärbewilligung verlassen. «Ich verbrachte jahrelang keinen einzigen Tag in Freiheit! Keine einzige Stunde liessen sie mich unbeobachtet! Deshalb begann ich, sie als Feinde wahrzunehmen.» Als Anwalt und Autor, der Kritik am zionistischen Staat äusserte, wurde er wiederholt ohne Anklage festgehalten, monatelang unter Hausarrest gestellt.
Der Weg zum bewaffneten Kampf
Ähnlich erging es seinem jüngeren Bruder Geris. Der spätere Bürgermeister von Fassuta wurde 1948 geboren. An seine Jugend unter israelischer Militärverwaltung erinnert er sich ungern.
Es hat nur damit zu tun, dass ich als Palästinenser geboren wurde. Und ich kam zum Schluss: Es gibt keinen anderen Weg als den bewaffneten Kampf.
«Wenn sie dich im eigenen Land angreifen, dir deine Freiheit nehmen, dann beginnst du dich zu fragen, warum? Und irgendwann verstand ich: Es hat nur damit zu tun, dass ich als Palästinenser geboren wurde. Und ich kam zum Schluss: Es gibt keinen anderen Weg als den bewaffneten Kampf.»
Als Ende der 1950er-Jahre einer kam, der ihnen die Befreiung Palästinas versprach, waren die beiden jungen Männer Feuer und Flamme.
Was mich anzog, war das Versprechen der Fatah-Partei Arafats, einen säkularen, demokratischen Staat für alle zu schaffen: für Palästinenser, Juden, Araber, Christen und Muslime.
Yassir Arafat – Guerilla-Führer und späterer Palästinenserpräsident – lehnte damals die Teilung Palästinas ab – und damit auch den jüdischen Staat. Terroranschläge gegen Israelis rechtfertigte er mit dem Widerstandsrecht. Arafat versprach eine Welt ohne Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus – und zu diesem zählte er auch den Zionismus. Diese Botschaft verfing bei Fida Jiryis' Vater und ihrem Onkel Geris am meisten.
«Was mich anzog, war das Versprechen der Fatah-Partei Arafats, einen säkularen, demokratischen Staat für alle zu schaffen: für Palästinenser, Juden, Araber, Christen und Muslime.»
Der bewaffnete Kampf der Palästinenser gegen Israel führte über die Jahrzehnte jedoch nicht zu diesem Ziel. Im Gegenteil (mehr zur Geschichte in der Box).
Fida Jiryis wünscht sich heute, ihr Vater hätte sich nie auf die PLO eingelassen. «Der bewaffnete Kampf, seine Mitgliedschaft in der PLO, sein Exil in Beirut: Alle diese Entscheide führten in unserem Leben schlussendlich zu dieser Tragödie.»
Sie respektiere zwar, dass ihr Vater seine Entscheide unter komplexen Umständen gefällt habe, sagt Fida Jiryis. Ihr Fazit ist trotzdem kritisch. Besonders, weil sie mehrere Jahre freiwillig im besetzten Westjordanland gelebt hat, wo bis heute Kinder erleben, was ihr Vater vor 75 Jahren erlebt hat.
So zum Beispiel Jahid, ein 10-jähriger Junge, im Flüchtlingslager Dschenin. Er wächst inmitten der Gewalt zwischen bewaffneten palästinensischen Gruppen und israelischen Soldaten auf. Er habe sich an die Gewalt gewöhnt, sagt er. Eine Zukunftsperspektive sieht er keine. Zu diesem Jungen sagt Fida Jiryis: «Es gibt nur wenig, was ich diesem Jungen sagen kann. Ich empfinde tiefe Trauer und Scham. Im grossen Ganzen haben wir Palästinenser elendiglich versagt. Wir haben es nicht geschafft, einen sicheren Hafen zu erreichen.»
Die palästinensisch-israelische Schriftstellerin übt zwar Kritik an der Politik Israels. Sie ist aber auch eine der seltenen palästinensischen Stimmen, welche die politische Führung ihres eigenen Volkes kritisiert.
Die Rückkehr nach Israel und eine dunkle Vorahnung im Sommer
Dass die palästinensische Familie 1994 aus dem Exil nach Israel zurückkehren durfte, grenzt an ein Wunder. Erst recht, weil Fida Jiryis' Vater Sabri ein bekannter Aktivist und ein Mitglied der damals militanten PLO war, bevor er ins libanesische Exil ging. Ihre Rückkehr in ihr Heimatdorf verdankt die Familie einem Durchbruch beim Oslo-Friedensprozess 1993 und einer kleinen Klausel in den Osloer Abkommen, welche nur wenigen Palästinensern eine Rückkehr erlaubte.
Fida Jiryis weiss noch genau, wie sie sich fühlte, als sie Ende 1994 erstmals vor der Kirche von Fassuta stand: «Es war wie ein wahr gewordener Traum. Eine Rückkehr nach Fassuta hatten wir uns nie vorgestellt, wir dachten, wir würden den Rest unseres Lebens im Exil verbringen. Gleichzeitig erstickte ich fast vor Trauer, weil ich mir wünschte, meine Mutter wäre auch hier.»
Die Hoffnung der Oslo-Friedensabkommen währte allerdings nicht lange (mehr zum Hintergrund in der Box).
Drei Wochen vor dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Beginn des Gaza-Krieges klingen die Worte der Schriftstellerin über den Zustand der palästinensisch-israelischen Beziehungen schon fast prophetisch.
«Ich sehe die Situation mit einem Gefühl absoluter Tragik. Heute sind wir, nach all den Jahren des Kämpfens, an einem viel, viel dunkleren Punkt, als wir je waren. Das palästinensische Volk hat meiner Ansicht nach seinen Kompass verloren, es weiss nicht mehr, was tun oder wie es weitermachen soll.»
Nach Beginn des Israel-Hamas-Krieges Anfang Oktober sagt Fida Jiryis in einer Nachricht aus dem Luftschutzkeller in Fassuta: Die Raketen und die Bomben machten ihr weniger Angst als die Zukunft ihres Landes.
«Ich weiss nicht, wie unser Leben aussehen wird, nachdem beide Seiten, Juden und Palästinenser, ihr altes Vernichtungstrauma von Neuem erleben. Im Moment bin ich einfach nur sehr verzweifelt.»