«Heute wurden viele Millionen treue und anständige Menschen von unserem Blut heimatlos», schreibt eine Budapester Zeitung am 4. Juni 1920. An diesem Tag unterschreiben ungarische Regierungsvertreter in Versailles den Friedensvertrag von Trianon. Sie gehören zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs und müssen einer Verstümmelung ihres Landes zustimmen. Die Sieger – Frankreich, Grossbritannien und Italien – verteilen zwei Drittel des ungarischen Territoriums und die Hälfte der ungarischen Bevölkerung. Sie gehen an die Tschechoslowakei, Jugoslawien, die Ukraine und vor allem an Rumänien.
Dort leben noch heute 1.2 Millionen Ungarischsprachige. Sie sind die grösste Minderheit im Land. «Die Ungarn in Rumänien haben das Trauma von Trianon nie verwunden», sagt Csaba Asztalos, der Präsident des nationalen Rats gegen Diskriminierung in Bukarest und selbst ungarischsprachig. «Umgekehrt sind die Ungarn in den letzten hundert Jahren in Rumänien immer als Bedrohung dargestellt worden.»
Schlägerei auf dem Friedhof
Meist schwelt der Konflikt zwischen rumänischer Mehrheit und ungarischer Minderheit im Verborgenen. Doch immer mal wieder flammt er auf; letzten Sommer im abgelegenen Uz-Tal in Siebenbürgen, einer Region im Zentrum Rumäniens, wo Ungarischsprachige in einzelnen Kreisen in der Mehrheit sind.
Hunderte rumänische Nationalisten stürmten einen Friedhof, auf dem hauptsächlich ungarische Soldaten begraben sind. Ungarischsprachige bildeten eine Menschenkette, um «ihren» Friedhof zu verteidigen. Es kam zu Pöbeleien und Schlägereien.
«Wir werden jeden Tag unterdrückt»
Auslöser für den Konflikt waren drei Reihen neuer Betonkreuze. Sie sollen an ein paar Dutzend rumänische Soldaten erinnern, die auch auf diesem Friedhof begraben sein sollen. «Die Kreuze sind eine Provokation rumänischer Nationalisten», sagt der ungarischsprachige Politaktivist Attila Toro.
Dass ihn die paar Gräber so stören, hat damit zu tun, dass er sich in Rumänien als Bürger zweiter Klasse fühlt: «Wir erleben die staatliche Unterdrückung täglich. Obwohl sieben von zehn Einwohnern in meiner Gemeinde Ungarn sind, können wir nicht frei über unsere Strassennamen entscheiden, dürfen die ungarische Flagge nicht hissen. Die rumänischen Politiker zeigen uns jeden Tag, dass heute sie die Herren sind in Siebenbürgen.»
Toro wünscht sich mehr Autonomie für jene rumänischen Gebiete, in denen die Ungarn in der Mehrheit sind, und weiss: Das hat keine Chance. Die rumänische Mehrheit würde das nicht akzeptieren.
Leben in der Parallelwelt
«Der Graben zwischen rumänischer Mehrheit und ungarischer Minderheit ist in den letzten Jahren tiefer geworden», sagt der Anti-Diskriminierungs-Beauftrage Asztalos. Einerseits interessiere sich der rumänische Zentralstaat kaum für seine grösste Minderheit. Andererseits kapselten sich die Ungarischsprachigen immer mehr ab. Viele ethnische Ungarn leben ein Leben als lebten sie in Ungarn und nicht in Rumänien: Sie besuchen ungarischsprachige Kindergärten, lernen in ungarischsprachigen Schulen, beten in ungarischsprachigen Kirchen.
Die Regierung in Budapest investiert viel Geld dafür, dass das möglich ist. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber es gilt als sicher, dass Ungarn jedes Jahr über 100 Millionen Franken in Rumänien ausgibt. Die ungarische Regierung finanziert ungarischsprachige Schulen, eine Universität, renoviert Kirchen, schickt in Corona-Zeiten Schutzmaterial. Regierungsnahe Unternehmer investieren in Rumänien in ungarischsprachige Medien.
«Sie besitzen heute ein richtiges Medien-Konglomerat hier in Siebenbürgen», sagt der Soziologe Tamas Kiss. Seine Untersuchungen zeigen, dass sich immer mehr Siebenbürgener Ungarn ausschliesslich in ungarischsprachigen Medien aus dem Umfeld von Orbans Partei informieren.
Das verändere ihr Weltbild, sagt der Soziologe. «Sie sind sehr empfänglich für die Anti-Migrations-Kampagne der ungarischen Regierung. Die Fremdenfeindlichkeit ist bei ihnen grösser als im rumänischen Durchschnitt. Sie ist sogar grösser als in Ungarn selbst.»
«Budapest hat die Seele der Ungarn gewonnen»
Csaba Asztalos sieht das Engagement der Orban-Regierung in Rumänien mit gemischten Gefühlen. Als Siebenbürgener Ungar schätzt er die Chancen, die das Geld aus Budapest der ungarischen Minderheit eröffnet. Als rumänischer Anti-Diskriminierungs-Beauftragter fürchtet er, Orbans Bemühen um die rumänischen Ungarn könnte den Graben zwischen Minderheit und Mehrheit weiter vertiefen. Auf jeden Fall gehe Orbans Strategie auf. Asztalos ist überzeugt: «Budapest hat die Seele der Ungarn in Rumänien gewonnen.»
Ein Fussballclub als Symbol des Ungarntums
Wie ungarisch ihre Seele ist, besingen auch die Fans des FC Dac in der südslowakischen Kleinstadt Dunajská Streda. «Wir sind vom gleichen Blut», heisst es in der Hymne des slowakischen Topclubs – auf Ungarisch. Und als wäre das nicht genug, singen sie vor dem Spiel auch noch die ungarische Nationalhymne.
«Der FC Dac ist das Symbol für alle Ungarn, die seit Trianon ausserhalb von Ungarn leben», sagt der Belgier Jan van Dael. Er ist Sportdirektor des FC Dac und der Schwiergersohn des Klubbesitzers. «Aber», sagt er, «die Klubhymne und die Nationalhymne haben nichts mit Separatismus oder mit Provokation zu tun. Sie sind nur Ausdruck der hiesigen Kultur – und die ist nun mal ungarisch.» Wie in Rumänien sind die Ungarischsprachigen auch in der Slowakei die grösste Minderheit, hier im Südwesten der Landes sind sie sogar in der Mehrheit.
Ungarisches Steuergeld für Spitzenfussball
Vor dem Bürofenster von Sportdirektor van Dael in der klubeigenen Fussballakademie liegen zehn akkurat gemähte Trainingsplätze. 40 Millionen Euro haben Akademie und ein neues Stadion gekostet. Einen Grossteil hat van Daels ungarischsprachiger Schwiegervater bezahlt – ein sowohl in der Slowakei wie in Ungarn bestens vernetzter Geschäftsmann – 10 Millionen Euro hat die ungarische Regierung beigesteuert.
«Ohne die Unterstützung aus Ungarn wäre es kaum gelungen, aus dem Zweitligisten FC Dac innert weniger Jahre einen der Spitzenclubs der Slowakei zu machen», sagt der Sportdirektor. Er findet, die Unterstützung passe gut zum Anliegen der ungarischen Regierung, das Ungarntum auch jenseits der eigenen Grenzen zu fördern.
«Es gibt Wichtigeres als Fussball»
Zsolt Gal sieht das kritischer. Der ungarischsprachige Politologe lebt in einem Dorf gleich nebenan. Er lehrt an der Comenius-Universität in der slowakischen Hauptstadt Bratislava und macht Politik für eine kleine liberale Partei der ungarischen Minderheit. Er sagt: «Natürlich haben wir ungarischsprachigen Slowaken nichts gegen Geld von den ungarischen Steuerzahlern. Aber wie das Geld verteilt wird, ist wenig transparent – und auch wenig sinnvoll.» Der Grossteil gehe nämlich in den Spitzenfussball. Dabei gäbe es in der Region viel dringendere Anliegen.
«Für die ethnischen Ungarn ist – wie für die slowakischsprachige Bevölkerung in der Region – die wirtschaftliche und verkehrstechnische Entwicklung viel wichtiger», sagt Gal. Die Gegend sei nämlich unter den Kommunisten und auch nach der Wende, in den 1990er-Jahren, gezielt vernachlässigt worden, weil man wie in Rumänien die Ungarischsprachigen als Bedrohung für den Nationalstaat sah.
«Roma und Migranten haben uns als Bedrohung abgelöst»
«Das ist hier in der Slowakei Vergangenheit. Migranten und Roma haben uns Ungarn als Bedrohung abgelöst», sagt der Politikwissenschaftler Gal. Die ungarische Minderheit in der Slowakei sei heute – anders als in Rumänien – gut integriert. So gut, dass Parteien der ungarischen Minderheit immer wieder an der slowakischen Regierung beteiligt waren.
Die gute Integration ist sicher ein Grund dafür, dass die Zustimmung zum ungarischen Regierungschef Viktor Orban hier weit weniger schwindelerregend ist als in Rumänien. Sind im rumänischen Siebenbürgen mehr als 90 Prozent der Ungarischsprachigen Orban-Anhänger, dürften es in der Slowakei etwa 50 Prozent sein.
Auch das ist viel Zustimmung – und es zeigt: Orban scheint es zu gelingen, eine grossungarische Nation, einen zusammenhängenden kulturellen und gesellschaftlichen Raum zu schaffen. Eine Nation von Viktor Orbans Gnaden.