Seit 100 Tagen ist Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens – und noch immer hat er keine Koalition, keine regierungsfähige Mehrheit im Parlament gefunden. Stattdessen setzt er auf Konfrontation. Die Regierung Bolsonaro habe ein erschreckend geringes Verständnis für das demokratische System, sagt die brasilianische Politikwissenschaftlerin Lara Mesquita im Interview.
SRF News: Wie beurteilen Sie die ersten 100 Tage der Regierung Bolsonaro?
Lara Mesquita: Die Regierung hat keine Mehrheit im Kongress – und versucht auch gar nicht, Koalitionen herzustellen. Da hätte in den letzten drei Monaten etwas passieren müssen. Die Strategie ist bisher beinahe undemokratisch: Das Parlament soll abnicken, was die Regierung vorschlägt.
Die Strategie ist beinahe undemokratisch. Es fehlt an Verständnis für die Arbeit des Parlaments.
Es fehlt an Verständnis für die Rolle des Parlaments – etwa, Gesetzesprojekte zu hinterfragen. Der Präsident behält seine Strategie der Konfrontation bei, die er in den letzten Jahrzehnten als Abgeordneter bereits an den Tag gelegt hat. Was das Thema Korruptionsbekämpfung angeht, ist es besorgniserregend, dass es nun Verdachtsmomente gegen die Familie Bolsonaro selbst gibt.
Was heisst das für die nächsten dreieinhalb Jahre seiner Regierungszeit?
Wir haben in Brasilien ein fragmentiertes Parlament, die grösste Fraktion hat zehn Prozent der Sitze. Ohne Bündnisse kann man nicht regieren. Die Frage ist: Wie will der Präsident so die Legislaturperiode überstehen? Wenn die Regierungsfähigkeit nicht hergestellt wird, kann dies den Weg für Proteste bereiten und letztendlich sogar dazu führen, dass der Präsident beschliesst, den Kongress zu schliessen.
Ich glaube nicht, dass das Militär anstrebt, an die Macht zu kommen.
Der Präsident selbst hatte im Militär keinen hohen Rang, aber er hat Militärs als Minister und sein Vize-Präsident ist ein Vier-Sterne-General. Zwar vertreten die Militärs bisher gemässigtere Positionen als der Präsident selbst. Und ich glaube auch nicht, dass das Militär anstrebt, an die Macht zu kommen. Aber der Präsident selbst könnte es durch eine Radikalisierung in diese Richtung lenken.
Wie sollte sich die internationale Gemeinschaft verhalten?
Es ist wichtig, dass man im Ausland versteht, dass Jair Bolsonaro kein Politiker der traditionellen Rechten ist. Er ist wertkonservativ, das nähert seinen Diskurs an den der Rechten an. Aber eine rechte Regierung wird, wenn sie demokratisch denkt, Koalitionen anstreben, um zu regieren. Dazu kommen andere Unterschiede. Etwa, wenn Sie sich ansehen, wie er als Abgeordneter abgestimmt hat: Er hat auf gewisse Weise ein Eingreifen des Staates in die Wirtschaft verteidigt.
Bolsonaro ist kein traditioneller Rechter. Als solcher würde er Koalitionen anstreben.
Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft ein Auge auf Brasilien hat: Auf das Funktionieren der Demokratie und darauf, ob die individuellen und die politischen Rechte garantiert sind. Damit meine ich auch eine mögliche weitere Radikalisierung des Diskurses des Präsidenten und dementsprechende Handlungen. Es gibt zwar nicht heute und sofort ein Risiko für die Demokratie, aber mittelfristig ist ein Bruch denkbar – und da ist die Rolle der internationalen Gemeinschaft fundamental, sie darf das nicht hinnehmen.
Das Gespräch führte Karen Naundorf