Selten sieht man in Frankreich so viele Bürgermeister zusammen auf der Strasse wie vor einer Woche in Saint-Brévin-les-Pins. Rund 2000 Menschen, Politikerinnen und Bürger trafen sich zu einer Solidaritätskundgebung für den ansässigen Bürgermeister Yannick Morez.
Morez hat schwierige Monate hinter sich. Monatelang erhielt er anonyme Drohungen wegen der geplanten Verschiebung eines Asylzentrums, und es blieb nicht bei Drohungen: Im März wurde sein Haus in Brand gesteckt.
Gewalt gegen Politiker nimmt stark zu
Die Tat empörte das ganze Land, sogar Emmanuel Macron hat dem Bürgermeister sein Mitgefühl ausgesprochen, und Premierministerin Elisabeth Borne hat ihn in Paris empfangen.
Der Bürgermeister von Saint-Brévin-les-Pins ist bei weitem nicht der einzige französische Lokalpolitiker, der Opfer von Drohungen und Gewalt geworden ist. 2200 Aggressionen gegen Politiker wurden im Jahr 2022 in Frankreich gezählt. Dies ist eine massive Zunahme.
Grosse Verletzlichkeit bei Amtsträgern
Yann Godet ist Bürgermeister in einer kleinen Gemeinde in der Bretagne. Auch er erlebte Dramatisches. Auf offener Strasse wurde er vor wenigen Wochen mit einer Schusswaffe bedroht. Passanten griffen ein und konnten die Situation entschärfen. Das Ereignis ging trotzdem nicht spurlos an ihm vorbei.
«Schwierig ist für mich dieses Gefühl von totaler Verletzlichkeit. Jeder kann beschliessen, eine offene Rechnung mit seinen eigenen Mitteln zu begleichen, und oft ist dieses Mittel Gewalt.» Dass man in dieser Funktion Druck und Konflikten ausgesetzt sei, empfindet Godet als normal. Aber derart ausgeliefert zu sein, findet er beunruhigend.
Ansprechpartner für Frustration und Wut der Bevölkerung
Die Soziologin Anne Muxel sieht Gründe im Wandel der Gesellschaft. Sie beobachtet aber auch, dass ein grosser Teil der Französinnen und Franzosen das Vertrauen in die politischen Institutionen verloren habe.
Obwohl den Lokalpolitikern mehr Vertrauen entgegengebracht wird als den Politikern auf nationaler Ebene, wirke sich diese Entwicklung vor allem auf die Bürgermeister negativ aus: «Sie stehen an vorderster Front, wenn es darum geht, Frustration, Unzufriedenheit und Wut in Bezug auf eine Reihe von Anliegen zu katalysieren.»
«Nun muss der Staat eingreifen»
So könne es nicht weitergehen, finden die Politiker, die an der Solidaritätskundgebung teilgenommen haben. Philippe Rio, Bürgermeister der Gemeinde Grigny, bringt es so auf den Punkt: «Wir sind hier, um zu sagen, das muss aufhören. Der Staat muss eingreifen!»
Ebenso klar der Hilferuf auf einem riesigen Transparent an der Kundgebung: «Die Republik ist in Gefahr» steht in grosser Schrift darauf.
Marie-Catherine Lehuédé ist Bürgermeisterin von Batz-sur-Mer, ein Dorf in der Nähe von Saint-Brévin-les-Pins, ebenfalls im Departement Loire-Atlantique. Auch sie fühlt sich vom Staat zu wenig geschützt: «Wir sind alleine und hilflos in schwierigen Situationen.»
Das angezündete Haus des Bürgermeisters Yannick Morez scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein. Das Problem ist nun landesweit zum Vorschein gekommen, und die Regierung will Aggressionen gegen Mandatsträger härter bestrafen. Davon lässt sich der Bürgermeister von Saint-Brévin-les-Pins aber nicht mehr überzeugen. Er tritt zurück.