Es ist ein Frühsommertag, die Sonne blinzelt durchs Geäst der Kirschbäume. 101 waren nach dem Unglück gepflanzt worden, ein Baum für jedes Opfer.
Es gibt für mich ein Leben vor Eschede und ein Leben nach Eschede. Und das Leben nach Eschede ist nicht schön.
Vorsichtig steigt Udo Bauch die steile Treppe zum Hain hinunter, Stufe für Stufe. Seit dem 3. Juni 1998 ist er linksseitig teilweise gelähmt, geht am Stock. «Es gibt für mich ein Leben vor Eschede und ein Leben nach Eschede. Und das Leben nach Eschede ist nicht schön», sagt der 55-Jährige lakonisch.
Chronologie des Unglücks
An jenem 3. Juni 1998 sitzt Udo Bauch in Wagen 11 des Intercity-Express ICE, der mit Tempo 200 von München nach Hamburg unterwegs ist. Rund sechs Kilometer vor dem niedersächsischen Eschede bricht unter dem dritten Wagen ein Radreifen. Das Metallteil verkeilt sich im Rad-Drehgestell, bohrt sich durch den Wagenboden.
200 Meter vor dem südlichen Ortsrand von Eschede stösst der feststeckende Radreifen an einer ersten Weiche an, wodurch das Drehgestell entgleist, eine zweite Weiche umstellt. Der hintere Teil des Wagens wird dadurch auf das abzweigende Gleis geleitet und prallt mit 200 Kilometern pro Stunde gegen die Pfeiler einer Strassenbrücke.
Die ersten vier Waggons schaffen es noch unter der einstürzenden Brücke durch. Wagen 5 und 6, der Speise- und ein Erste-Klasse-Wagen, werden unter 200 Tonnen Beton zerquetscht. Die nachfolgenden sieben Wagen schieben sich innert Sekunden wie eine Handorgel zusammen.
Gewaltige Rettungsaktion
Minuten nach dem Unglück sind die ersten Anwohner zur Stelle, versuchen Verletzte aus den verkeilten, aufgetürmten Waggons zu bergen. Es wird Katastrophenalarm ausgelöst.
Der damalige Kreisbrandmeister Gerd Bakeberg eilt aus dem nahen Celle herbei und koordiniert als Gesamteinsatzleiter die Bergungsarbeiten. «Wir haben alle möglichen Hilfsangebote von benachbarten Landkreisen und Berufsfeuerwehren bis hin nach Hamburg angenommen, weil uns ja damals nicht bewusst war, wie viele Leute überhaupt in dem Zug waren.»
Insgesamt sind 1900 Retter, 350 Fahrzeuge und 39 Helikopter in die Bergungsaktion eingebunden. Doch für 101 Menschen kam jede Hilfe zu spät, 105 wurden teils schwer verletzt.
Späte Entschuldigung
Angehörige und Überlebende strengten einen Prozess gegen die Deutsche Bahn an, doch das Verfahren wurde 2003 eingestellt, ein Schuldiger nie gefunden. «Das war ein Schlag ins Gesicht der Opfer», sagt Udo Bauch.
Versöhnung mit der Bahn gibt es für mich nicht, weil das Leid, die täglichen Schmerzen zu gross sind.
Das Ganze war schwer verdaulich wie die erste Entschuldigung der Bahnbetreiberin – 15 Jahre nach dem Unglück. «Versöhnung mit der Bahn gibt es für mich nicht, weil das Leid, die täglichen Schmerzen zu gross sind.»
Immerhin wurden Lehren aus der Tragödie gezogen. Es wurden zusätzliche Notausstiegsfenster in die ICE-Züge eingebaut, das Schneidewerkzeug der Feuerwehr wurde verbessert. Eschede war auch die Initialzündung für die Einsatznachsorge für Rettungskräfte. Denn bei solchen Grossereignissen benötigen selbst die Helfer psychologische und seelsorgerische Hilfe.
Eschede ist mehr als dieses Unglück, wir haben unseren Weg in die Normalität wieder gefunden.
Für Eschede ist der 3. Juni seit 25 Jahren ein fester Termin im Kalender. Bürgermeister Heinrich Lange legt aber Wert darauf, sein Dorf nicht nur auf die Tragödie zu reduzieren: «Eschede ist mehr als dieses Unglück, wir haben unseren Weg in die Normalität wieder gefunden.» Das Gedenken werde in Eschede aber immer einen festen Platz haben.