Finsterwalde – das klingt nach «Dunkeldeutschland». Und tatsächlich: Die kleine 17 000 Einwohnerstadt, 100 Kilometer südlich von Berlin, liegt im tiefsten Brandenburg, einem der waldreichsten Bundesländer voller dunkler Kiefern, in der Ex-DDR. «Dunkeldeutschland» – davon hatte auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck gesprochen, als er während der Flüchtlingskrise 2015 vor Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gewarnt und den Vergleich zwischen einem hellen und einem dunkleren Deutschland gezogen.
«Dunkeldeutschland» – das war immer der Osten. Und in diesen Tagen denkt man bei Finsterwalde unwillkürlich an Pegida, die AfD, die unzufriedenen Ostdeutschen, den dunklen Wald und den bösen Wolf.
«Weltspiegel» in Finsterwalde
Torsten Siegert knipst das Licht an: Der Anblick des grossen Kinosaals ist beeindruckend. Seit 1912 ist das Kino «Weltspiegel» in der Hand der Familie Siegert. Siegerts Urgrossvater hatte das Kino als eines der ersten in Deutschland mit zwei Geschäftspartnern gegründet und – ausgerechnet in Finsterwalde gebaut.
Es überlebte das Kaiserreich, die Weimarer Republik, Hitler und die DDR. Und es wird wahrscheinlich auch noch die Kanzlerschaft von Angela Merkel überdauern. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Einmarsch der Roten Armee arbeitete Siegerts Vater als Heizer im Keller des Kinos. Und als die DDR den «Weltspiegel» 1972 enteignete und verstaatlichte, führte Siegerts Vater das Kino als Geschäftsführer weiter. Torsten Siegert wurde hier schon im Kinderwagen rumgeschoben. Und heute arbeiten Vater Siegert, seine Frau Sabine und Sohn Maximilian im Kino.
Und es ist alles noch da: Jede Lampe aus DDR-Zeiten, jede Jugendstilglasscheibe aus dem Kaiserreich, das alte Geschirr aus des Kaffee «Weltspiegel» aus der Weimarer Republik, jedes Kinoplakat aus 40 Jahren DDR. Die Tresortüre ist aus einer Platte eines Tigerpanzers aus dem Zweiten Weltkrieg gefertigt – etwas anders gab es kurz nach Kriegsende nicht. Der alte Projektor im ersten Stockwerk ist noch betriebsbereit und soll für eine Kinovorführung 1946 für den sowjetischen Marschall Schukow benutzt worden sein, dem Eroberer von Berlin.
Höhepunkt der Besichtigung mit Torsten Siegert aber ist der grosse Kinosaal und vor allem die sogenannte Vision-Bar. Die vom grossen Saal abgetrennte Bar ist ganz in Rot gehalten, im Chic der DDR der 1970er Jahre; hier werden Sekt und Häppchen serviert, und wenn es im Saal dunkel wird, öffnet sich der grosse rote Vorhang und gibt den Blick durch eine Glasscheibe auf den Kinosaal und die Leinwand frei. Und hier, in den bequemen roten Sesseln, findet der entscheidende Wortwechsel statt.
«Der Drops ist gelutscht»
Ich sage zu Torsten Siegert: «Dass sie dieses Kino ganz im Stil der DDR erhalten haben, 30 Jahre nach dem Mauerfall ist fantastisch. Also muss ihnen die DDR doch etwas bedeutet haben.» Er: «Das ist nicht DDR-Chic, das ist der Stil der 1970er Jahre».
Und das ist der entscheidende Punkt: Wer Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, wer die Weimarer Republik, Hitler, den Zweiten Weltkrieg und die DDR mit seinem Kino überlebt hat, denkt in anderen Kategorien. Siegerts sind Unternehmer: Politische Systeme sind für sie unternehmerisch gesprochen Hindernisse und Herausforderungen, die überwunden werden müssen. Aber das wahre Herzensprojekt der Siegerts ist und war der «Weltspiegel».
Im Westen kochen sie auch nur mit Wasser.
Mit dieser Einstellung denkt man gelassener über die DDR nach. Obwohl: Einfach war es nicht. Nach der Wende meldeten sich drei Gesellschafter aus dem Westen und mussten ausbezahlt werden. Siegert brauchte damals selbst Geld. Das Kino musste saniert werden. Aber niemand in der DDR, niemand in einer Mangelwirtschaft, hatte Vermögen. Die Siegerts starteten mit 11'000 Mark. Und als die Deutsche Bank um einen Kredit angefragt wurde, winkte sie ab: kein Interesse.
Tempi passati. Siegert schaffte es. «Im Westen kochen sie auch nur mit Wasser». Der Mauerfall und die Wende sind für ihn im Grunde positiv und vor allem eines: abgehakt. «Der Drops ist gelutscht», sagt er. Jetzt geht es darum im kleinen Finsterwalde mit dem grossen Weltspiegel und 450 Plätzen zu überleben.
«Dein Vater hat die Schraubenfabrik geschlossen»
Ganz anders blickt der 75-jährige Johannes Wohmann auf die letzten 30 Jahre zurück. Von 1990-2010 war er Bürgermeister in Finsterwalde. Und es begann dramatisch: Betriebe wurden entweder geschlossen oder die Belegschaften von tausenden auf hunderte verringert. Das bekamen gerade auch Wohmanns Söhne zu spüren. In der Disco am Samstagabend hiess es: «Der Bürgermeister, Dein Vater, hat die Schraubenfabrik geschlossen, Dein Vater hat die Tuchfabrik dichtgemacht.» Es kam regelmässig zu Prügeleien.
Wir waren damals praktisch wie die Pegida heute.
Aber auch Johannes Wohmann zieht ein positives Fazit: «Zu 70 Prozent sehe ich die Wende positiv.» Negativ aber sieht er die Situation heute. Er vergleicht sie sogar mit der Situation von 1989. Die Politiker benähmen sich mit derselben Arroganz wie die DDR-Bonzen von damals.
1989 engagierte sich Wohmann in der Bürgerrechtsbewegung «Neues Forum», um nach der Wende erster Bürgermeister in einer neuen Zeit zu werden. Heute sagt er: «Wir waren damals praktisch wie die Pegida heute.»
Wohmann ist nicht AfD-Mitglied, wählt nicht AfD, demonstriert nicht mit Pegida. Er ist ein geerdeter Ingenieur und war zu DDR-Zeiten in keiner Partei- oder Massenorganisation. Im Gegenteil: Er war für die FDP, die Partei der Unternehmer, zum Bürgermeister gewählt worden. Aber er spricht wie die AfD.
Man könne wählen, aber habe nichts zu sagen, so Wohmann. Und er sagt dies aus praktischen Erfahrungen eines Kommunalpolitikers. Die Gemeinden hätten immer weniger zu bestimmen, anders als noch in den Wendezeiten. Und im Wesentlichen lebe Finsterwalde als Gemeinde von den «Schlüsselzuweisungen aus dem Landeshaushalt». Sprich: Man kriegt quasi Almosen und hat keine Handlungsfreiheit. All das könnte zwar auch ein Kommunalpolitiker im Westen bemängeln, aber im Osten wird Kritik – aus den Erfahrungen der Geschichte – sehr schnell zur Systemkritik.
Das Trauma der Ostdeutschen
Die Geschichte der Siegerts ist eine Antwort, die von Johannes Wohmann eine zweite. Die einstige DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel, heute Autorin und Professorin an der Schauspielschule «Ernst Busch» hat eine dritte und sie erzählt sie am Beispiel der eigenen Familie.
Ihre Grossväter waren zum Teil hochrangige SS-Mitglieder, ihr Vater war offizielle Musikpädagoge, in Tat und Wahrheit aber Terroragent der Stasi. Auch Ines Geipel selbst konnte dem Schicksal nicht entfliehen. Sie war DDR-Leichtathletin, lief 1984 Weltrekord mit der 4x100 Meter Staffel, aber sie war auch Teil und Opfer des DDR-Dopingprogramms. 1984 hatte sie sich bei der Vorbereitung zu den Olympischen Spielen in Los Angeles in einen mexikanischen Sportler verliebt, wollte fliehen und geriet ins Visier der Stasi. Bei einer Blinddarmoperation wurde ihr auf Anweisung des ostdeutschen Geheimdienstes die gesamte Bauchmuskulatur durchschnitten. So wollte die Stasi ihre Karriere und Wettkämpfe im Ausland verhindern. 1989 floh Ines Geipel in den Westen.
Über all die Katastrophen und Verbrechen wurde in der Familie nie gesprochen. Und alle wurde daran krank. Zuletzt der geliebte Bruder, der einem aggressiven Hirntumor zum Opfer fiel und auf dem Sterbebett noch die Hand fast wie zum Hitlergruss hob und sagte, er müsse in den Krieg.
Obwohl er kein Nazi ist. Ines Geipel erklärt sich dies so: «Unsere Poren erinnern sich, auch an das, was sie nicht erlebt haben können. Sie sind … Erinnerungsarchive, in denen eine fremde Zeit beliebig unterkriechen kann.»
Für Ines Geipel ist ihre Familiengeschichte prototypisch für die DDR-Gesellschaft, die den Nationalsozialismus nie aufgearbeitet hat. Und das sei auch der Grund für die aktuelle Wut und den Hass im Osten. Die Familie von Ines Geipel ist zwar ein Extrembeispiel. Aber eben auch ein Beispiel.
Kann man den Osten auf den Punkt bringen?
Für die Familie Siegert ist die DDR eine Fussnote in der langen Geschichte des Kino «Weltspiegel». Für Johannes Wohmann, den früheren Bürgermeister von Finsterwalde waren die DDR und vor allem die Wendezeit prägend. Er war fünf als die DDR gegründet wurde, «auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt» wie es in ihrer Nationalhymne heisst, er war 45 als sie unterging. Diese Zeit hat ihn geprägt. Und Ines Geipel?
Vielleicht kann man es so sagen: Die einen Segeln unberührt von den Gezeiten der Geschichte übers Meer, der andere wird von ihrem Wellenschlag durcheinandergewirbelt, und die dritte wühlt den Schlamm der Geschichte auf. Auf der Suche nach dem Unbewältigten. Den Osten auf den Punkt bringen kann man noch nicht, aber man kann ihn mit einzelnen Beispielen und Geschichten vermessen.