«Im Sozialismus verhielten sich die meisten Leute so, als wären sie faul. Meine Hauptaufgabe war, diese faulen Menschen dazu zu bringen, hart zu arbeiten.» Mit Sätzen wie diesen ist Leszek Balcerowicz, der erste Finanzminister im demokratischen Polen, für viele zu einem Feindbild geworden. Zusammen mit seinem «Balcerowicz-Plan».
Der damals 42-jährige Ökonom, der vor seiner Zeit als Finanzminister gerade mal ein Seminar an der Universität geleitet hatte, verschrieb Polen Ende 1989 einen «Kurzstreckenlauf»: von der sozialistischen Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft.
Vor allem die Schliessung von tausenden Staatsbetrieben traf viele Polinnen und Polen hart. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 20 Prozent. Das sei unvermeidlich gewesen, sagt Balcerowicz: «Viele hatten im Sozialismus einen Job, aber kaum etwas zu tun. Diese versteckte Arbeitslosigkeit ist beim Übergang in die Marktwirtschaft eben zu offener Arbeitslosigkeit geworden.»
«Zum ersten Mal wachsen wir schneller als der Westen»
Heute herrscht in Polen praktisch Vollbeschäftigung, die Löhne steigen, die Wirtschaft wächst. Darauf ist Balcerowicz stolz: «Kein Land hat so erfolgreich zum Westen aufgeschlossen wie Polen. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte wachsen wir sogar schneller als der Westen.»
Doch die langen harten Jahre stecken in Polen vielen noch immer in den Knochen. Vor allem auf dem Land haben viele den Eindruck, sie mühten sich ab und würden doch immer mehr abgehängt
Diese Leute hat die nationalkonservative Partei PiS abgeholt. Vor vier Jahren hat sie die polnischen Wahlen gewonnen – mit markiger Rhetorik gegen Fremde, aber auch mit dem Familienprogramm 500+. Unter diesem Titel verteilt die Regierung grosszügig Kindergeld. Nach den vielen harten Jahren scheint das Bedürfnis in Polen gross, den staatlichen Gürtel zu lockern.
Die Kritik, der «Balcerowicz-Plan» und seine sozialen Härten hätten den Boden bereitet für den Wahlerfolg der PiS, ärgert Balcerowicz: «Zu sagen, etwas, das vor 30 Jahren angeblich hart gewesen sei, habe der PiS zum Erfolg verholfen, ist schlicht unseriös.» Für ihn ist die Wahl der PiS ein «Unfall», und die Tatsache, dass die PiS gute Chancen hat, im Herbst bei den Parlamentswahlen erneut zu gewinnen, «eine Folge der guten Wirtschaftslage».
Sorgen bereiten dem Wirtschaftsprofessor Balcerowicz weniger die in seinen Augen zu grosszügige Umverteilungspolitik der PiS. Vielmehr fürchtet er, 30 Jahre nach der Wende könnte eine neue Form der Diktatur nach Polen zurückkehren: «Wenn die Justiz, die Polizei, Geheimdienste, Strafverfolgung und die Gerichte von einer Partei übernommen werden, heisst das: Adieu Demokratie.»
Orientierung nach Westen in Ungarn
Angst um die Demokratie in seinem Land hat auch der Ungare Géza Jeszenszky. Er war Aussenminister der ersten frei gewählten Regierung in Budapest und hat mitgeholfen, den Beitritt Ungarns zum Verteidigungsbündnis Nato und zum Europarat vorzubereiten. «Das sollte eine Garantie sein gegen jede neue Besetzung Ungarns – durch wen auch immer.»
Diese Orientierung nach Westen teilte Jeszenszky mit dem heutigen ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Der war schon von 1998 bis 2002 an der Macht und schickte den ehemaligen Aussenminister als Botschafter nach Washington.
«Mit Steuergeld gegen die EU zu wettern, ist dumm»
Inzwischen hat Orban allerdings eine «Öffnung gegen Osten» eingeleitet. Er will Ungarn öffnen für Geschäfte mit Russland und China. Die wirtschaftliche Öffnung leuchtet Jeszenszky ein. Aber Orbans Sympathie für Putins Autoritarismus und seinen Konfrontationskurs mit der EU hält der 77-Jährige für einen grossen Fehler: «Die Regierung versucht, die Leute zu täuschen, wenn sie behauptet, die EU sei der Feind. Wir bekommen viel Geld via Brüssel. Zudem können wir als EU-Mitglied dazu beitragen, die Union zu verbessern. Mit Steuereinnahmen eine Kampagne gegen die EU zu lancieren, ist eine Dummheit.»
Ebenso sehr stört den ehemaligen Geschichtsprofessor, wie regierungstreue Historiker die ungarische Geschichte umschreiben. «Zu behaupten, wir Ungaren seien in der Geschichte immer Opfer gewesen, vor allem Opfer des Westens, ist ganz einfach falsch. Genauso falsch ist die Behauptung, der Westen wolle Ungarn zerstören, indem er dem Land hunderttausende Migranten aufdrücke.»
«Orban ist ein Zauberer»
Behauptungen wie diese lassen sich nicht belegen, aber sie bringen Erfolg. Zum dritten Mal hintereinander haben Orban und seine Fidesz-Partei letztes Jahr die nationalen Wahlen gewonnen, im Mai zum vierten Mal die Europawahl.
Das ist auch ein Resultat von Viktor Orbans politischem Talent. Jeszenszky, der den ungarischen Regierungschef seit über 30 Jahren kennt, sagt: «Orban ist ein Zauberer. Er kann die Leute in seinen Bann ziehen.»
Unbesiegbar sei Viktor Orban aber nicht, ist Jeszenszky überzeugt. Es brauche nur eine grössere Wirtschaftskrise und die Leute könnten sich von ihm abwenden. Oder Orban vollzieht selbst eine Kehrtwende: «Er kann sich ganz schnell an neue Umstände anpassen», sagt der ehemalige Diplomat.
Das hat Orban schon einmal bewiesen, als er sich vom liberalen Pro-Europäer zum national-konservativen Euro-Skeptiker gewandelt hat. Géza Jeszenszky traut dem Zauberer Orban diesen Trick auch in die umgekehrte Richtung zu.
Rumäniens «Zauberer» sitzt im Gefängnis
Rumäniens mächtiger Mann hingegen wird so bald keine Zaubertricks mehr vollbringen. Liviu Dragnea, ehemaliger Chef der regierenden sozialdemokratischen Partei und graue Eminenz im Land, sitzt seit kurzem im Gefängnis. Erfolglos haben er und seine Partei versucht, das zu verhindern, etwa mit dem Umschreiben des Strafgesetzes.
Ausserdem hat seine Partei die Wahlen ins europäische Parlament diesen Frühling verloren. Das gibt Vielen in Rumänien Hoffnung auf eine Zukunft mit weniger Korruption. Eine der Hoffnungsvollen ist die Dichterin und Bürgerrechtlerin Ana Blandiana: «Die Jungen gehen plötzlich wählen, setzen sich ein für Veränderung. So haben wir eine Chance, weiterzukommen.»
Blandiana hat eine Gedenkstätte gegründet für die Opfer des Kommunismus. Ganz im Norden Rumäniens, in einem Gefängnis, in dem der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu vor allem die rumänische Intelligentsia hat verhungern lassen.
Dieses Mahnmal besuchen jedes Jahr viele junge Leute – Ana Blandiana ist es wichtig, dass gerade sie erfahren, wie schlimm die Vergangenheit war. Damit so etwas nie wieder passiert.
Drei Schreibverbote
Als sie selbst gerade 18 Jahre alt war, hat ihr die rumänische Zensur verboten, Gedichte zu veröffentlichen – nach dem Erscheinen ihres allerersten Gedichts. «Das waren die schwierigsten Jahre. Ich war doch so jung, wusste nicht einmal, ob ich Talent hatte», sagt Blandiana.
Danach folgten zwei weitere Schreibverbote: 1984 und kurz vor der Wende 1989 für ein Kinderbuch über einen Kater, der den Kontakt zur Realität verloren hatte – offenbar las der rumänische Diktator Ceausescu dieses Buch als Karikatur.
Absage an die Politik
Schreibverbot Nummer zwei und drei, sagt Blandiana, seien im Gegensatz zum ersten ein Segen gewesen für sie. Der Nimbus der verbotenen Dichterin habe sie berühmt gemacht. Ihre Bücher wurden in Rumänien heimlich gedruckt. Im Ausland übersetzte man ihre Gedichte in viele Sprachen.
So hätte es noch lange weitergehen können. Nie hätte sie gedacht, dass Ceausescu 1989 stürzen würde, sagt Blandiana. Genau das geschah aber. Die neuen Machthaber, erst gerade noch Ceausescus Freunde, wollten Ana Blandiana unbedingt in ihrer Regierung haben. «Weil das Volk dich liebt» – so begründeten sie diesen Wunsch. «Da lernte ich: Politik ist Manipulation – und sagte Nein.»
Viele Menschen in Rumänien verstanden dieses «Nein» nicht. Die meisten Rumäninnen und Rumänen hätten sich 1989 zwar von Ceausescu abgewendet, nicht aber von der Mentalität des Kommunismus, sagt Blandiana. Politik ist da, um die Leute zu blenden, zur persönlichen Bereicherung – diese Maxime gelte nach wie vor für viele, oder für Leute wie den verurteilten Parteichef Dragnea. Heute, 30 Jahre nach der Wende, hat sie Hoffnungen wie noch nie, dass sich das ändert.
(Sendebezug: Echo der Zeit 15.07.2019)