Auch 75 Jahre nach Ende der NS-Diktatur wird nach noch lebenden Mordhelfern ermittelt. Die Suche gilt seit dem Urteil gegen John Demjanjuk 2011 auch all jenen, die sich allein durch ihre Anwesenheit in Konzentrationslagern – etwa als Wachleute oder Aufseher – mitschuldig gemacht haben, ohne dass ein konkreter Einzeltatnachweis vorliegt. Für die Überlebenden des Holocaust und deren Familien sei es wichtig, dass auch diese Täter vor Gericht kämen, erklärt die Historikerin Andrea Löw.
SRF News: Nach über 75 Jahren wird weiter gegen alle ermittelt, die an den Taten des Hitlerregimes beteiligt waren. Wie sucht man?
SRF News: Es geht in dieser späten Zeit gar nicht mehr so sehr um geflohene prominente Täter, die zum Beispiel unter falschem Namen in Südamerika leben. Es geht vielmehr um sämtliche über 90 Jahre alten Männer und Frauen, die irgendwo in Deutschland oder Europa noch leben. Wie viele Wachleute aus Konzentrationslagern noch leben und nicht ermittelt wurden, ist schwer zu sagen.
So sucht man also nicht mehr nach den Haupttätern, sondern nach jenen, die sich am Regime und seinen Taten beteiligt haben?
Es geht ganz gezielt um Männer und Frauen, die in Konzentrations- und vor allem in Vernichtungslagern Dienst getan haben. Deshalb gibt es so spät so viele Verfahren. Das ist eigentlich erst seit dem Urteil gegen John Demjanjuk im Jahr 2011 in München der Fall. Denn damals wurde festgehalten, dass die blosse Anwesenheit in Vernichtungslagern zur Zeit der Morde ausreicht, um verurteilt zu werden. Vorher war immer ein konkreter Einzeltatnachweis verlangt worden.
Nach dem Demjanjuk-Urteil sind viele Ermittlungen gegen Wachleute in Gang gekommen. Etwa das Verfahren von 2015 gegen Oskar Gröning in Lüneburg, den «Buchhalter von Auschwitz». Da reichte tatsächlich der Nachweis, dass er zur besagten Zeit in Auschwitz war, um ihn der Beihilfe zu Mord für schuldig zu sprechen.
Ist das die qualitative Bedeutung der heutigen Verurteilungen. Dass es ausreicht, dabei gewesen zu sein?
Es geht vor allem darum, dass vor einem deutschen Gericht verhandelt wird und die Schuld anerkannt wird. Das ist für die Überlebenden und deren Nachkommen ganz wichtig. Auch wenn öfters die Frage auftaucht, ob solche Greise noch vor Gericht gestellt werden sollen. Dass das jetzt erst passiert und so spät, liegt daran, dass es jahrzehntelang nicht passiert ist.
Dass das erst jetzt passiert und so spät, liegt daran, dass es jahrzehntelang nicht passiert ist.
Wie konnte es dazu kommen, dass man erst in den späten 1950er-Jahren oder noch später angefangen hat, zu ermitteln?
Hätte man in den 1950er-Jahren mit einem so breiten Verständnis wie heute ermittelt, wäre das mitten in die Gesellschaft gegangen. Dazu war der Wille nicht da. Die Rechtsprechung findet in einem gesellschaftlichen Umfeld und Zusammenhang statt. Die damalige Gesellschaft wäre überhaupt nicht bereit gewesen für eine Rechtsprechung, die in den Kern der Gesellschaft zielt.
Was wird es für die Aufarbeitung dieser Zeit und die Hinterbliebenen bedeuten, wenn in einigen Jahren die letzte Akte geschlossen sein wird, weil alle verstorben sind?
Was die Aufarbeitung betrifft, so haben alle seit den 1950er-Jahren geführten Ermittlungen einen riesigen Quellenbestand für die Historiker hervorgebracht. Es ist sehr viel Material vorhanden, dass für die Holocaust-Forschung nicht verloren geht, auch wenn diese Prozesse notwendigerweise zu einem Ende kommen. Auch die juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen wird sicherlich ein wichtiges Thema bleiben.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen-Domokos.
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