2023 ist nicht 1938. Aber 1938 und die Shoa, die Massenvernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, ist immer präsent zwischen Deutschland und Israel. Nach dem Krieg wünschte sich Kanzler Konrad Adenauer eine Normalisierung. Willy Brandt sprach in den 1970er-Jahren von einer «normalen Beziehung mit einem besonderen Charakter».
Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heisst, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.
Seit 2008 prägt Angela Merkel die politische Haltung. Was sie damals vor der Knesset sagte, wiederholte sie auf der letzten Israel-Reise als Kanzlerin 2021: «Deutschland ist nicht neutral, wenn es um die Fragen der Sicherheit Israels geht. Sondern die Sicherheit Israels ist Teil unserer Staatsräson.»
Die Staatsräson hat sogar die aktuelle Regierung in den Koalitionsvertrag geschrieben. Kanzler Olaf Scholz: «In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz, den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir mit diesen Worten.»
Unklare Floskel, Scheinriese?
Aber was heisst «an der Seite Israels» konkret? Letztlich sei diese Floskel das grundsätzliche Problem, sagte Militärexperte Carlo Masala bei «Welt TV». Denn es sei nicht definiert, wie weit Deutschland zu gehen bereit sei, wenn die Existenz Israels auf dem Spiel steht.
Markus Kaim, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, publizierte 2015 zur «Staatsräson»: Der Begriff sei ein «Scheinriese», je weiter weg, umso gewichtiger erscheine er und sorge für Verwirrung: «Viele Bundesbürger glauben, dass Bundeswehrsoldaten nach Israel verlegt würden, was überhaupt nicht zur Debatte steht und Israel weit von sich weisen würde.»
Eine mögliche Deutung
Kaim spricht so von drei Elementen: Rüstungslieferungen an Israel, Bemühungen um den Friedensprozess im Nahen Osten und Abwendung von Gefahr etwa durch das iranische Atomprogramm.
Regierungsmitglied Cem Özdemir fasste die Erwartungen weiter und sprach angesichts des Antisemitismus von Muslimen auf deutschen Strassen vielen aus der Seele. Er beklagte im Bundestag die mangelnde Bekenntnis muslimischer Verbände: «Antisemitismus erst nach Aufforderung auf Deutsch verurteilen, um dann auf Türkisch und Arabisch das Gegenteil zu sagen, darf nirgendwo mehr durchgelassen werden.» Und er betonte: «Auch das wäre praktizierte deutsche Staatsräson.
Erinnerungskultur unter Druck
Das Bekenntnis zu Israel mag einstudiert wirken, doch es bleibt wichtig in Deutschland. Ebenso die Erinnerungskultur. Denn die «Schlussstrichdebatte» hat immer mehr Anhänger, die finden, es müsse Schluss sein mit der deutschen Schuld.
In diesen Reihen ist von «Obsessionsmanagern und Hohepriestern» die Rede, die angeblich von oben die Erinnerungskultur befehligen. Dies sei auch historisch völlig falsch, sagt Antisemitismus-Experte Nikolas Lelle: «Erinnerungskultur wird nicht aufoktroyiert, sondern von unten erkämpft, seit Jahrzehnten und vielfach gegen den Widerstand der deutschen Mehrheitsgesellschaft.»
Mehr Empathie
Der Antisemitismus nimmt zu, die Politik bleibt oft vage. In dieser Gemengelage traf Wirtschaftsminister Robert Habeck mit seiner vielbeachteten Videorede einen Nerv: «Der Satz, Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson, war nie eine Leerformel und darf auch keine werden. Es braucht jetzt Klarheit und kein Verwischen.» Mindestens genauso wichtig wie Habecks Worte aber war, dass da endlich ein Regierungsmitglied empathisch von Deutschlands Verantwortung gegenüber Israel sprach.