Monica Kerwin ist eine stolze Aboriginalfrau. Eher ungewöhnlich für viele erste Australierinnen und Australier ist sie nicht schüchtern, zurückhaltend oder gehemmt. Sie sagt, was sie denkt – offen und direkt. «Die australische Regierung ist eine rassistische Regierung», meint sie per Handy im Gespräch mit SRF.
Sie ist in ihrem Wohnort Wilcannia, rund zehn Stunden Autofahrt westlich von Sydney. Kerwin ist aufgebracht, ja wütend. Und sie ist traurig. «Es bricht mir das Herz», meint sie, den Tränen nahe. Im Hintergrund das heisere Geschrei von Krähen. Ein starker Wind stört die Übertragung vom «Outback» in die Zivilisation.
Aboriginalfrau schildert die Armut in Wilcannia
Zum Zeitpunkt des Telefonats mit Kerwin Anfang September war jede und jeder Zehnte der rund 700 Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes mit dem Covid-Virus infiziert. Zehn Prozent einer Bevölkerung, die praktisch nur aus Ureinwohnern besteht. Kerwin klagte über den Mangel an Hilfe, mit dem die zum Teil bitterarmen Menschen konfrontiert seien. Das kleine Spital des Dorfes habe Kranke abgewiesen, die um Hilfe gebeten hatten.
In ihrer Frustration griff die Frau zum Smartphone. Auf Facebook klagte sie über die Zustände in Wilcannia. Ihr emotionaler Hilferuf ging im Internet viral: Das Video wurde tausende Male geteilt. Monica kam am Fernsehen. Endlich begannen die Politiker, sich für Wilcannia zu interessieren.
Den rund 800'000 Ureinwohnern Australiens droht wegen ihres generell schlechteren Gesundheitszustandes ganz besonders, nach einer Infektion mit dem Covid-Virus schwer zu erkranken und an den Folgen zu sterben. Das hatten zwar die Bundesregierung in Canberra als auch die Regierung des Bundesstaates New South Wales in Sydney bereits im letzten Jahr erkannt.
Kurz nach Ausbruch der Pandemie im März 2020 hatte eine Delegation von Aborigines gewarnt, dem indigenen Australien drohe ein Massensterben, falls sich das Virus in ihren Gemeinden verbreiten könne. Die Bittsteller baten um Möglichkeiten zur Isolation von Infizierten. «Wir wollten nur in paar Zelte», meint Kerwin. Doch geschehen sei nichts. «Unsere Meinung wurde am Tisch der Mächtigen nicht geschätzt. Niemand hat auf uns gehört. Wir glauben, das ist so, weil wir Aboriginal sind.»
Mangelnder Wohnraum führt zu hohen Infektionszahlen
Dabei wussten die Warner genau, wo die Gefahr lauert. Wie in anderen von Armut geprägten Aboriginal-Gemeinden, wo sozialer Wohnungsbau fast die einzige Form von Unterkunft ist, leidet Wilcannia unter einem Mangel an Wohnraum. Dies sei eine fatale Situation in einer Pandemie, sagt der Epidemiologe und Arzt Jason Agostino von der australischen Nationaluniversität (ANU) im Gespräch mit SRF. «Jeder positive Fall und jeder Kontakt zu den infizierten Personen muss vom Rest der Bevölkerung isoliert werden», so der Experte. Wenn das nicht möglich sei, «wird die Zahl der Ansteckungen nur steigen».
Die Wohnsituation ist mit Abstand die grösste Herausforderung, wenn es um die Verbesserung der Gesundheit der Ureinwohner geht.
Genau das ist inzwischen geschehen. In den vergangenen Tagen ist die Ansteckungsrate in Wilcannia weiter gestiegen – jeder sechste Bewohner des Dorfes ist heute infiziert. Und das, obwohl die Regierung nach Kerwins Video nicht nur medizinische Fachkräfte nach Wilcannia delegiert und ein Impfprogramm beschleunigt hatte. Sydney schickte – einer modernen Karawane gleich – 30 Wohnmobile in das abgelegene Dorf. In diesen sollen sich Covid-Infizierte isolieren können vom Rest ihrer Familie und damit hoffentlich eine weitere Eskalation verhindern. Für einige Betroffene könnte diese Hilfe aber zu spät kommen, fürchten Experten.
Für den Arzt Jason Agostino ändert die Hilfe nichts am Grundproblem. «Die Wohnsituation ist mit Abstand die grösste Herausforderung, wenn es um die Verbesserung der Gesundheit der Ureinwohner geht.» Indigene Australier leben traditionell gerne zusammen – nicht selten drei, vier Generationen unter einem Dach. «Das wäre kein Problem, wenn Infrastruktur solide gebaut und dann auch unterhalten würde», meint der Epidemiologe, der selbst eine Aboriginal-Gemeinde medizinisch betreut.
Die Realität aber sei: Vom Staat zur Verfügung gestellte Häuser sind in vielen Fällen schlecht gebaut. Die mangelhafte Qualität zeige sich unter anderem in defekten Wasser- und Abwassersystemen. Diese mit Hygiene unvereinbaren Mängel würden von der öffentlichen Hand manchmal jahrelang nicht repariert.
Ureinwohner leiden häufiger unter verhinderbaren Krankheiten
Die Wohnsituation, in Kombination mit anderen Faktoren wie schlechter Gesundheitsversorgung in abgelegenen Gemeinden, Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Ausgrenzung, führe dazu, dass die indigenen Bewohner Australiens im Durchschnitt deutlich häufiger unter verhinderbaren Krankheiten leiden als nicht-indigene Australierinnen und Australier.
Covid sei nur die letzte einer langen Liste von Infektionen, die «Aboriginal-Gemeinden verwüsten», sagt der Experte. Einige dieser Krankheiten seien ein klassisches Symptom von Armut: rheumatisches Fieber und dadurch verursachte Herzkrankheiten etwa, die Folge verschleppter Bakterieninfektionen. Die Folge: In einem der reichsten Länder der Welt sterben Aborigines im Durchschnitt zehn Jahre früher als nicht indigene Australierinnen und Australier.
Dabei, so Agostino, wäre das Problem ungenügender Unterkünfte eigentlich lösbar. Es brauche mehr Geld. «Ganz einfach: Verschiedenste Regierungen haben es unterlassen, in den sozialen Wohnungsbau zu investieren», meint der Experte. Oft werden Entscheide über den Bau von Infrastruktur für isolierte Aboriginal-Gemeinden von Beamten in einer Grossstadt getroffen, nicht von den Menschen, die in den Häusern leben werden.
Die indigenen Politiker in Canberra setzen sich zu wenig für ihre eigenen Leute ein.
Menschen wie Monica Kerwin. Das Gefühl, vom Staat nicht ernst genommen zu werden, trägt zu ihrer Frustration bei. Die wenigen indigenen Politiker in Canberra seien auch keine Hilfe, meint sie. «Sie setzen sich zu wenig für ihre eigenen Leute ein. Sie sind nur Puppen der Regierung.»
Politik wehrt sich gegen Vorwürfe
Solche Vorwürfe werden von Ken Wyatt bestritten, dem ersten indigenen Minister für Aboriginal-Angelegenheiten. Es sei viel erreicht worden in den letzten Jahren, um die Lebensbedingungen der Ureinwohner zu verbessern. Die Krise in Wilcannia und vergleichbaren Orten führt er auf die Impfzögerung unter den Bewohnern zurück, nicht auf eine Missachtung der Wünsche und Warnungen der Bevölkerung.
Monica Kerwin jedenfalls ist auch nach dem Anlaufen der Hilfsaktion in Wilcannia unzufrieden: «Zu wenig, zu spät», meint sie. Für die Zukunft – nach Covid – wünscht sie sich von den Politikern nur eines: «Lasst uns allein. Wir Aborigines sind ein freies Volk. Und dies ist unser Land.»